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Volltext: Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts : ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung, Band 1: Charakteristik und Entwicklung der Stadt, Ingenieurbauten

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Geologische Beschaffenheit des Bodens. 
Überblickt man die neueste geologische Karte der Umgebung Wiens von D. Stur 1 ), so 
sieht man sofort, daß dieser nordöstlich streichende Zug der Flyschgesteine von einer nord 
südlich streichenden Linie abgeschnitten wird, welche von Nußdorf über Ober-Sievering nach 
Dornbach, Lainz nach Kalksburg fortsetzt, hier die sich an die Flyschzone südlich anschließende 
Kalkzone schneidet und sich dann weiter nach Perchtoldsdorf, Mödling, Baden, Vöslau, Fischau 
fortsetzt und in der Gegend von Gloggnitz endet. Dies ist eine große Verwerfungsspalte, welche 
durch das Auftreten von heißen Quellen ausgezeichnet ist und deshalb von E. Suess 2 ) die 
Thermenlinie genannt wurde. Dieser Abbruch des Gebirges, an welchen sich die westlichen 
Bezirke Wiens anlehnen, bezeichnet das westliche Steilufer eines Meeres, welches in der Mitte 
der Tertiärformation (Miozän) in die große österreichisch-ungarische Niederung eindrang und 
welches wegen seiner Beziehungen zum Mittelmeer von E. Suess als die zweite Mediterran 
stufe bezeichnet wurde. 
Im Stadtgebiete von Wien ist aber noch eine kleinere Scholle viel älterer Gesteine er 
halten geblieben, welche seit jeher die Aufmerksamkeit der Wiener Geologen gefesselt hat. 
Dies sind die Klippen von St. Veit. Südlich von der Einsiedelei liegen die Aufschlüsse der 
ältesten Gesteine, welche an der Zusammensetzung des Bodens von Wien beteiligt sind. 3 ) 
Es sind Ablagerungen der rhätischen Stufe, auf welche die dunkelgrauen Gesteine der 
unteren Jura, des Lias, folgen, dessen undeutliche Spuren an der Fahrstraße unter der Einsiedelei 
entdeckt worden sind. 4 ) Dann folgen zahlreiche kleinere und größere Kuppen im Bereiche 
des Tiergartens und in St. Veit selbst, welche dem braunen und weißen Jura, dem Dogger 
und Malm, angehören; diese Gesteine enthalten zahlreiche Schalen großer Ammoniten und 
einzelne Belemniten. 
Wir kehren an den südöstlichen Abfall des Kahlen- und Leopoldsberges bei Nußdorf 
zurück. Schreitet man die breite Fahrstraße vom Kahlenberge gegen Nußdorf herab und ver 
folgt aufmerksam die Aufschlüsse an der linken Seite der Straßenböschung, so gewahrt man 
plötzlich einen vollständigen Wechsel des Gesteins. Statt des blaugrauen Flyschsandsteins 
tauchen aus dem Buschwerk große, verwitterte Blöcke auf, welche aus einem sehr groben 
Konglomerat bestehen und ganz mit Schalenfragmenten von Austern und Pekten sowie zahl 
reichen Steinkernen anderer Muscheln und Schnecken erfüllt sind; die Gerolle bestehen zum 
größten Teil aus Flyschgesteinen. Dieses Konglomerat ist eine Strandbildung des Meeres der 
zweiten Mediterranstufe. 
Ebenso wie sich heute an den Meeresküsten eine Sonderung der Sedimente in kantige 
Uferblöcke, gerollte Strandblöcke, Schotter, Sand und Tegel vollzieht, so umfassen auch die 
Meeresbildungen der zweiten Mediterranstufe vielgestaltige Gesteine. Unmittelbar an der Steil 
küste liegen, wie z. B. bei Kalksburg, große, eckige Blöcke, dann folgt, weiter meerwärts, eine 
breite Zone von Konglomeraten (Leithakonglomerat); an diese schließen sich Quarzsande 
(Sande von Grinzing und Pötzleinsdorf), in noch weiterer Entfernung vom Ufer und 
größerer Tiefe Tegelmassen an (Tegel von Baden, Soos, Vöslau). Außer den genannten 
Sedimenten erscheint unter den mediterranen Bildungen des Wiener Beckens noch ein weiteres, 
sehr wichtiges Glied, der Leithakalk, ein gelbliches, hartes, zu Bauzwecken sehr geeignetes 
Gestein. Er ist das Produkt der aufbauenden Tätigkeit zahlloser kalkabscheidender Rotalgen, 
welche Lithothamnium ramosissimum oder Nullipora ramosissima genannt werden; daher be 
zeichnet man wohl auch den Leithakalk als Lithothamnien- oder Nulliporenkalk. Eine 
lebhafte Vorstellung von dem Bilde, das diese Nulliporenriffe im Meere der zweiten Medi 
terranstufe an den Küsten des Kahlenberges, bei Kalksburg, Wollersdorf, am Leithagebirge 
u. s. w. geboten haben mögen, geben uns die heute noch sich an der Adriatischen Küste auf 
bauenden Nulliporenriffe. 5 ) 
"AVenn der Nulliporenkalk verwittert, so zerfällt er in zahllose, in der Regel kaum 0 5 cm 
lange, dicke, verzweigte Ästchen; man sieht sie z. B. auf den Wegen bei den Eichelhöfen 
oberhalb Nußdorf allenthalben in der Ackerkrume. 
Eine zweite Varietät des Leithakalkes ist der Amphisteginenkalk, welcher nach den 
zahllosen Schälchen der Foraminiferengattung Amphistegina benannt ist. Er ist weiß oder 
>) D. Stur, Geologische Spezialkarte der Umgebung von Wien (Kol. XIV, XV, XVI, Zone 12, 13 im Maßstabe 1 : 75.000), 
mit Erläuterungen. Wien 1894, Lechner. 
2 ) E. Suess, Die Erdbeben Niederösterreichs. Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 1873, 
Bd. XXXIII. — Bericht der Wasserversorgungskommission der Stadt Wien. 1864, 4'’, S. 108. 
3 ) C. L. Griesbach, Die Klippen im Wiener Sandsteine. Jahrbuch der k. k. Geologischen Reichsanstalt. 1869, S. 218. 
— E. v. H och st etter, Die Klippe von St. Veit bei Wien. Jahrbuch der k. k. Geologischen Reichsanstalt. 1897, Heft 2. 
4 ) In einem Brunnen beim „Glassauersteinbruch“ sind die Grestener Schichten mit Gryphaea arcuata angetroffen worden. 
6 ) Vgl. die Tafel „Nulliporenbänke im Adriatischen Meer“ von E. v. Ransonn et in Kern ers Pflanzenleben. 1. Aufl. Bd. I, S.239.
	        
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