Hermann Goetz; Kunst aus Indien
Von allen großen KunsHraditionen der Menschheit ist die indische
noch am wenigsten bekannt. Dabei ist die Zahl der heute noch
erhaltenen Denkmäler nicht geringer als im Abendlande, und
diese wiederum nur ein kleiner Bruchteil dessen, was im Laufe der
Jahrtausende geschaffen worden ist. Schon jenseits des 16. Jahr
hunderts ist der Denkmälerbestand höchst unvollständig, und aus
den Zeiten vor der Wende unseres Jahrtausends sind uns nur Zu
fallstrümmer bewahrt, durch ihre Dauerhaftigkeit, die Einsamkeit
des Dschungels und den Schutz des Erdbodens vor völliger Ver
nichtung bewahrt. Und das meiste liegt noch unerschlossen unter
den Zehntausenden von Schutthügeln, die das Land überall be
decken. An Feinheit der Arbeit und Geschmack, Formenreichtum
und Bedeutungsgehalt nehmen die Schöpfungen der indischen
Kunst, wie verschiedener Art und Qualität sie auch sein mögen,
es durchaus mit der griechisch-römischen Antike, der Gotik und
Renaissance, dem alten Ägypten und Babylonien, China oder
Japan auf. Aber ihre Entdeckung ist noch ziemlich neuen Datums,
und eine lange Reihe von Mißverständnissen, uns auch aus der
Erschließungsgeschichte anderer Kulturen geläufig, hat ihrer
Schätzung bisher im Wege gestanden.
Denn was allein dem Reisenden bis spät ins 19. Jahrhundert zu
gänglich war, waren Tempel und Paläste von oft überwältigen
den Ausmaßen, aber in ihrer manierierten Stilisierung, überladenen
Verzierung und komplizierten Symbolik einem Außenseiter nicht
minder schwer verständlich als eine barocke Jesuitenkirche oder
ein Spätrenaissance- oder Rokokoschloß, überdies war vieles,
was der Fremde zu sehen bekam, eben Alltagsware, Tempel und
Moscheen so langweilig und geschmacklos wie viele unserer
Kirchen des 19. Jahrhunderts, ausdruckslose oder kitschige De
votionalien, wie man sie auch in Europa massenhaft findet, und
Kunstgewerbe, nicht besser als all der Schund, welcher auch
bei uns dem Touristen als Andenken verkauft wird. In der Tat
kann das meiste, was sogar im 19. Jahrhundert als indische
■ überhaupt als asiatische —■ „Kunst" in unsere Museen gelangt ist,
keine höhere Bewertung beanspruchen. Und mit der Wiedergabe
in Reiseberichten stand es noch viel schlimmer. Ob indische Ori
ginalbilder, ob — viel häufiger — ungeschickte Dilettanten
zeichnungen, beide wurden von den Kupferstechern bis zur Un
kenntlichkeit „verschönert”.
So war es vor allem die indo-islamische Kunst, in den Haupt
städten leicht zugänglich, verhältnismäßig schlicht und ohne all
zu viele symbolische Voraussetzungen, welche zuerst in Europa
Verständnis fand. Der Taj Mahal, das Grabmal der Mogul-Kai
serin Mumtaz-Mahal und ihres Gaffen, des Kaisers Shahjahan,
obwohl alles andere als eine rein indische Schöpfung, wurde so
früh zum weltberühmfen Wahrzeichen indischer Kunst; aber sicher
lich mußten die ungeheuren Mengen reinsten weißen Marmors
und kostbarer Steineinlagen selbst den Kunstblindesten beein
drucken. Mogul-Malerei kam schon seif dem 17. Jahrhundert in,
meist zweitrangigen, Alben nach Europa und wurde von Rem-
brandt und Sir Joshua Reynolds gesammelt.
Als im 19. Jahrhundert Indien besser bekannt wurde, sperrten der
klassizistische Kunstgeschmack und religiöses Vorurteil das Ver
ständnis. Für die Mehrzahl der Europäer war die indische Kunst
eben doch nur Ausdruck eines finsteren, Grauen erweckenden
Heidentums, und auch das Studium des Sanskrit an unseren Uni
versitäten konnte daran wenig ändern. Im allgemeinen mit einer
viel älteren religiösen Literatur beschäftigt, half es so viel und
so wenig wie etwa das Studium der Bibel oder der antiken Klas
siker zum Verständnis des Straßburger Münsters, Rembrandts oder
Tiepolos. Erst als um die Mitte des Jahrhunderts Sir Alexander
Cunningham, von James Burgess, H. Cousens und anderen ge
folgt, die indischen Denkmäler systematisch aufzunehmen begann,
als später das noch lebende indische Kunstgewerbe nicht weniger
systematisch gesammelt und registriert wurde, als James Fergusson
in seiner „Geschichte der Indischen und Osfasiatischen Archi
tektur den ersten Versuch einer Klassifizierung unternahm, als
Ende der neunziger Jahre die Publikation der Ajanta-Fresken in
sorgfältigen Kopien unter der Leitung von J. Griffiths ein Auf
sehen erregte, kaum geringer als hundert Jahre früher die Aus
grabungen von Pompeji, als der Archeclogical Survey unter Sir
John Marshall wenige Jahre später mit seinen ersten gut illu
strierten Jahresberichten hervortrat, begann die wirkliche indische
Kunst langsam bekannt zu werden. Und seit in Afghanistan
Bildwerke in einem hellenistisch-römischen Provinzstil —. für In
dien selber von nur geringer Bedeufung — aufgefauchf waren,
begann sich auch Europa für die indische Kunst zu interessieren.
Als schließlich mit der Wiederentdeckung unserer mittelalter
lichen Kunst, des Barock und des Rokoko der einseitige Klassi
zismus einer weiteren, elastischeren Kunsteinschätzung wich, als
die islamische Welt, Hinterindien, China und Japan von unseren
Künstlern und Kunstsammlern entdeckt wurden, war die Zeit für
das Verständnis der indischen Kunst reif geworden.
Aber es wiederholfe sich dasselbe Mißverständnis einer einseitig
religiösen Interpretation, welches zuerst auch den Zugang zur
griechischen, gotischen oder altägyptischen Kunst erschwert hatte.