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LOCAT • INCELIS • Qt> (quibus) • EST • A mAIESTAS • AMOR • ET •
DIVINA • PO^ESTAS (potestas) • (Diese ordnet er in den Himmeln, denen
ist Macht, Liebe und göttliche Kraft*.)
Jedenfalls bezieht sich diese Inschrift auf die Gestalten unten, die wohl
als die neun Chöre der Engel aufzufassen sind.
Um die ,,majestas domini“ waren wieder die vier Evangelistensymbole
geordnet, von denen aber die zwei oberen heute vollständig verloren gegangen
sind; sie müssen ursprünglich fast auf den Achseln gelegen haben.
Im untersten Teile der Kaselrückseite sehen wir das heute im Pluviale
unterhalb der thronenden Madonna eingesetzte Stück (Abbildung auf Seite
13). Die Inschrift über der betenden Gestalt lautet: CHVNEGVNDIS •
ABAT(issa) ••••, so daß wir hier offenbar wieder die Verfertigerin oder
Leiterin der Stickarbeit vor uns haben. Es sei hier eine Kleinigkeit bemerkt,
weil sie im Zusammenhänge vielleicht nicht ganz belanglos ist; es steht
nämlich in Wirklichkeit in der Stickerei nicht ,,Chunegundis abatissa . . .“,
sondern ,,Chunegundisoabatissa“ (in großen Buchstaben). Es ist aus dem
Trennungspunkt oder kleinen Trennungskreis zwischen den zwei Worten
beim Sticken ein großes O geworden; da die Seide im Innenraume des O
aber abgeschabt ist, erkennt man noch den viel kleinern vorgezeichneten
Trennungskreis.
Es ist wohl offenbar, daß die Stickerin die Vorschreibung mißverstanden
hat, was wohl weniger wahrscheinlich ist, falls Zeichner und Stickerin an
ein und demselben Orte waren oder falls der Zeichner, der für seine Zeit
offenbar ein Künstler war, die Ausführung der Stickerei selbst überwachte.
Merkwürdig ist noch die Unsymmetrie der Türme über den Bogen
stellungen und der Evangelistensymbole selbst. Von äußerem Zwange kann
hier gewiß nicht gesprochen werden, sondern nur von künstlerischer Frei
heit und Absicht. Daß die Bogen noch Rundform zeigen und nicht zugespitzte
Gestalt haben, darf uns nicht verwundern; auch das prächtige Antependium
von St. Jodokus in Eger, das wahrscheinlich erst nach 1268 entstanden ist,
zeigt noch romanische Bogen, aber auch die Kasel des XIII. Jahrhunderts
aus Angers, die Rohault de Fleury in seinem Werke „La Messe“ auf Tafel
DCX abbildet**.
Was die Gestalten selbst betrifft, so ließe sich etwa auf die um 1220
entstandene Hamersleber Bibel in der Gymnasialbibliothek zu Halberstadt***
* Wir glauben, daß so wie bei der Inschrift des Pluviales das ^ das Zusammentreffen von Anfang und
Ende der Inschrift bedeutet. Bock und Theußl beginnen mit Majestas oder Amor zu lesen. Es wäre nun aller-
dings möglich, daß in dem großen fehlenden Teile oben auch ein größeres Zeichen vorhanden war; ein be
stimmter Grund zu einer solchen Annahme ist aber nicht vorhanden. Gegen unsere Annahme spricht auch
nicht, daß die verschiedenen Inschriften einmal oben, einmal unten beginnen; es entspräche nur dem Prinzip
des Gegensatzes, der durch die ganze Arbeit geht. Nebenbei bemerkt, wird bei den Annahmen Bocks und
Theußls (Finsters) der fehlende Raum anscheinend auch nicht ausgefüllt und der Kreis mußte doch unbedingt
geschlossen sein. Außerdem erhält man so am Ende einen Reim, wie auch auf der andern Seite der Kasel.
Nach dem««EST«A»» finden sich in dem eingeschlagenen Teile Spuren zweier Buchstaben, von denen der
zweite wohl ein E ist; Finster (Theußl) denkt an Alleluja, doch füllt dieses Wort kaum den ganzen fehlenden Raum.
** Zu vergleichen wäre auch die berühmte (in der Anlage etwas ältere) Elisabeth-Kasel im Dome zu Erfurt
(V. Doering, Meisterwerke der Kunst aus Sachsen und Thüringen, Tafel 36).
*** „Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen“, XIV. Heft, Tafel 3.