HAND ZEICHNUNGEN
UND GRAPHISCHE BLÄTTER
Anna Spitzmüller — Eckhart Knab
Die Handzeichnung als selbständige vollendete künst
lerische Äußerung — nicht als bloße Ideennotiz wie etwa
bei Villard de Honcourt — reicht nicht über das vier
zehnte Jahrhundert zurück. Die Entwicklung der Zeich
nung, die das schöpferische künstlerische Werden noch
unmittelbarer vor Augen führt, als das formal und ma
teriell vollendete Gemälde, scheint durch Giotto ein
geleitet worden zu sein, der das Kunstwerk zur Offen
barung eines neuen Bewußtseins menschlicher Persön
lichkeit gemacht hat. Das wohl einzigartige Reiner-Blatt
(Nr. 89) aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts ist
eine der Inkunabeln der Handzeichnung im Sinne der
,,ars nova“. Die dynamische, rhythmisch-lineare Gestal
tung der Figuren, die ihrer Körperlichkeit nahezu ent
ledigt sind, ist kennzeichnend für die damals im Norden
herrschende asketische Gotik. Es ist die Zeit der großen
Mystiker, der Verinnerlichung und äußersten Vergeisti
gung des religiösen Bewußtseins. Die bildhaft kon
zentrierte Dreiergruppe der Taufe Christi des be
sprochenen Blattes kündet aber auch schon das neue
Sehen an (zum Unterschied von der Darstellung der
Flucht nach Ägypten links). Ein vielfach verwandtes
Stück ist das Reisealtärchen aus St. Florian, das auf
einem anderen Gebiet eine ähnliche Leistung bedeutet.
Eine weiter fortgeschrittene Auseinandersetzung der
österreichischen Gotik mit der im menschlichen Erleben
und naturverwandten Sein begründeten Anschauung der
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