MAK

Volltext: Neubauten und Concurrenzen in Österreich und Ungarn, 1. Jahrgang 1895

Seite 78. 
Neubauten und Concurrenzen in Oesterreich und Ungarn. 
Nr. 8; 
Die englische Architektur der Gegenwart.*) 
n rotzdem das nationale Princip in unserem Jahr- 
j hundert alle socialen Zustände beherrscht, sind 
die Künste, speciell die Architektur, bei aller 
ihrer nationalen Eigenart in den einzelnen Län 
dern des europäischen Continents doch nicht scharf gegen 
einander abgegrenzt: durch stete Wechselwirkung und 
gegenseitige Beeinflussung findet man auf allen Gebieten 
der Kunst jeder Nation Reminiscenzen und Verwandt 
schaften, bilden sich Uebergänge und Vermittlungen zwi 
schen den Künsten der Nachbarnationen. Nur Ein Land 
in Europa ging seit jeher auf allen Gebieten seine eigenen 
Wege, hat sein eigenartiges Gepräge bewahrt; es ist dies 
das Inselreich jenseits des Aermelcanals. Und hat auch 
die früher weit verbreitete Anschauung von der Unfähig 
keit und dem geringen Verständnisse der Engländer für 
bildende Kunst in der Gegenwart einem günstigeren Ur- 
theile Platz gemacht (insbesondere dank den unvergleich 
lichen künstlerischen Publicationen Englands, die sich auch 
den Continent erobert haben), so ist speciell die Geschichte 
der englischen Architektur bei uns zu wenig, jedenfalls 
viel weniger bekannt, als die anderer europäischer Länder. 
— Wie es das Glück und der Vorzug Englands ist, nach 
allen Seiten hin sich stetig und mit vergleichsweise wenigen 
gewaltsamen Erschütterungen entwickelt zu haben, so ist 
dies auch in der Architektur der Fall, so dass die modernen 
englischen Bau- und Stylverhältnisse nur verständlich werden 
durch die Kenntniss der Vergangenheit und des Werdens 
derselben. 
Es ist allgemein bekannt, dass der göthische Styl in 
England sich länger erhalten hat, als in irgend einem 
anderen Lande. Unter Eduard, dem Bekenner - , um die 
Mitte des 11. Jahrhunderts als normannischer Styl beim 
Baue der Westminsterabtei zur Anwendung gelangt, übte 
man die Gothik in England unter dem Namen Tudor-Styl 
noch im Anfang des 16. Jahrhunderts, zu einer Zeit, da 
die italienische Renaissance am Continente bereits Allein 
herrscherin war. Freilich wird in dieser letzten Epoche 
der englischen Gothik die Form durch die Decoration 
überwuchert, so dass der Styl seine natürliche Grundlage 
verliert und nicht mehr fähig ist, dem auch hier ein 
dringenden italienischen Einflüsse zu widerstehen. Unter 
der Regierung der Königin Elisabeth (in der zweiten Hälfte 
des XVI. Jahrhunderts) finden die Renaissanceformen viel 
fache Anwendung, freilich nur als äussere Decoration und 
den überlieferten gothischen Constructionsprincipien ebenso 
wenig gerecht werdend, wie den Regeln der italienischen 
Renaissance. 
Auf.den »Elizabethean« (dem Namen dieses Styls) 
folgt Inigo Jo7ies, genannt der englische Vitruv, der die 
Lehren und Formen Palladio’s in England einbürgern 
will. Aber während er im sogenannten Banquetting-House 
in Whitehall seinem italienischen Vorbild nachstrebt, muss 
er doch im St. John’s College in Oxford den Ueber- 
lieferungen sich fügen und gothisch bauen. Erst mit 
Christopher Wren gelangt die Renaissance in England zum 
vollständigen Siege — am Ende des XVII. Jahrhunderts! 
Es ist eine kunsthistorische Curiosität, dass dieser Vor 
kämpfer der italienischen Renaissance nie in Italien war 
und sich für dieselbe an den Plänen und Entwürfen 
Lorenzo Bernini’s begeistert hat, des heftigsten Gegners 
des reinen Styls! Auf dem Wege nach Italien begriffen, 
traf Wren in Paris Bernini, der damals als der grösste 
Baumeister der Welt allgemein anerkannt und von Ludwig 
*) Unser Streben ist vor allem darauf gerichtet, die Thätigkeit 
der heimischen Baukunst zu verfolgen und auf publicistischem Wege 
zu fördern. Um letzteres zu erreichen, ist es von grösstem Werthe, 
wie wir dies auch schon in unserem Programme betont haben, Um 
schau im Auslande zu halten und den Leistungen und Fortschritten 
daselbst zu folgen. Wir hoffen uns den Dank unserer Leser zu er 
werben, wenn wir, unserem diesbezüglichen Programmpunkte ent 
sprechend, mit dem heutigen Artikel, der auf Grund von an Ort und 
Stelle gemachten Studien des Autors und mit Zuhilfenahme der 
jüngsten und besten englischen Quellen die englischen Architektur 
strömungen der Gegenwart klarzulegen suchen. Die Redaction. 
dem XIV. nach Paris berufen worden war, um die Pläne 
für die Vollendung des Louvre anzufertigen. Vor Fort 
setzung der Reise wurde Wren nach England zurück 
berufen, wo inzwischen (im Jahre 1666) ein grosser Brand 
87 Kirchen und mehr als 12.000 Häuser in London ein 
geäschert hatte. Er wurde zum Generalbaumeister ernannt 
und entwickelte in einem langen Leben -— er wurde 
91 Jahre alt — eine ungemein fruchtbare Thätigkeit. Vor 
allem aber wird sein Name stets unter den grössten Bau 
meistern aller Zeiten genannt werden, als der des Er 
bauers der mächtigen St. Pauls-Cathedrale in London. 
In dieser Epoche — zu Beginn des XVIII. Jahr 
hunderts, da Königin Anna, die Gemahn Wilhelms von 
Holland, den englischen Thron einnimmt — hatten die 
Architekten eigentlich nur die Aufgabe, öffentliche Staats 
gebäude auszuführen. Die bürgerliche Architektur, selbst 
die besserer Art, lag in den Händen einfacher Hand 
werker, welche ohne jeden Luxus, ohne grosse decora- 
tive Formen bauten. Ein Consolen-Gesimse, zumeist in 
Holz und weiss gestrichen, das war alles, was dieFagade 
an Schmuck erhielt; die Fenster mit Holz eingerahmt 
und hie und da Guirlanden oder Festons oder decorative 
Panneaux auf meist in Ziegeln hergestellte Fagaden auf 
geklebt — das war der Typus des englischen bürger 
lichen Wohnhauses jener Zeit, eine Variante holländischer 
Architektur, genannt Styl der Königin Anna (Queen 
Anne). 
Gleichzeitig aber wurden bei der Monumental- 
Architektur die classischeh Vorbilder nachgeahmt, doch 
gebührt den Engländern der Ruhm, auf diesem Gebiete 
bisher verschlossene Wege zuerst betreten zu haben. 
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts entschliessen 
sich die Brüder Adam, die schon damals übliche Reise 
route ihrer Landsleute nach Italien weiter auszudehnen: 
sie gehen nach Dalmatien, wo sie in Spalato den Tempel 
des Diocletian gleichsam entdecken und aufnehmen. 
Dawkins und Wood entdecken die Ruinen von Palmyra 
und Baalbeck. Chandler und Pars durchstreifen Klein 
asien, während James Stuart und Nicolas Revett mit 
Unterstützung der englischen „Gesellschaft der Dilettanten“ 
daran gehen, die griechischen Alterthümer aufzunehmen. 
Wurden die herrlichen Ueberreste des griechischen 
Alterthums damit der Welt erschlossen und erhalten, so 
hatten diese Thaten englischer Architekten für die eng 
lische Bauweise die nachtheilige Folge, dass nun — zu 
Beginn dieses Jahrhunderts — alles in falscher griechischer 
Monumentalität arbeitet. Blöcke von Zins- und Ge 
schäftshäusern werden durch einheitliche Fagadirung ver 
einigt und erhalten den Charakter römischer Paläste 
und griechischer Tempel. 
Währenddem aber erloschen die gothischen Tra 
ditionen in England nicht einen Augenblick lang. Die 
Achtung und die Liebe für die Vergangenheit ist beim 
Engländer tief eingewurzelt, und dank dieser Tugend 
wurden vor allem die Baudenkmale aus alten Zeiten 
pietätvoll gepflegt und erhalten. 
Die Gothik blieb zu allen Zeiten der archaische Styl 
für die Kirchen, so dass selbst Wren, der eingefleischte 
Renaissanceler, wiederholt in gothischem Style baute, freilich 
in einer Gothik sehr zweifelhafter Natur, Der romantische 
Geist, welcher durch die Romane Walter Scotfs das 
Publicum ergriff, war von nicht geringem Einfluss auf 
eine Wandlung in den Kunstanschauungen Englands: 
Der gothische Styl lebt wieder auf und wird dominirend. 
Als im Jahre 1834 das Parlamentshaus in West- 
minster abbrennt und eine Concurrenz für ein neu zu 
erbauendes eröffnet wird, wird die Gothik als nationaler 
Baustyl bereits ausdrücklich gefordert. Unter nahezu 
hundert Concurrenten erhielt den Preis Charles Barry 
ein Architekt, der zwar, dem, allmälig der Gothik sich 
zuwendenden Geschmacke folgend, auch einige gothische 
Kirchen von geringer Bedeutung gebaut hatte, aber von 
Haus aus vornehmlich der Renaissance huldigte. Gewiss
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.