Der Wunsch, das neuerbaute Kunstgewerbemuseum und die jüngsten
Erwerbungen der k. Museen in Berlin genauer kennen zu lernen, führte
mich im Mai 1. J. nach Berlin. Obwohl ich nur zehn Tage dem Besuche
widmen konnte, so versäumte ich keine Zeit, so weit es Gesundheit und
Witterung gestattete, mich über die gegenwärtige Kunst Berlins zu orientiren.
Jetzt, wo ich daran gehe, meine Reise-Eindrücke zu ordnen, fühle ich
sehr, wie lückenhaft dieselben sind, und für wie Vieles ich dem freundlichen
Entgegenkommen meiner Berliner Fachcollegen zu Danke verpflichtet bin.
Diesen meinen Freunden habe ich daher nichts Neues zu sagen, doch glaube
ich, dass meinen österreichischen Lesern das nicht ganz unwillkommen
sein wird, was ich über Berlin, seine Kunstgewerbemuseen, über das k.
Museum und den kunstgewerblichen Aufschwung in Berlin erzähle.
Was gegenwärtig in Berlin sich vollzieht, ist nicht localer Natur.
Die kunstgewerbliche und volkswirthschaftliche Bewegung im deutschen
Reiche ist derzeit nicht auf einen einzelnen Ort beschränkt, sondern hat
unter dem Einflüsse der erhebenden Stimmung, welche die Siege im deutsch
französischen Kriege hervorgebracht haben, das ganze deutsche Volk er
griffen, und es gibt keine Stadt von irgend einer industriellen und ge
werblichen Bedeutung, die nicht an dieser Bewegung einen lebendigen
Antheil nehmen würde. Von diesen Erscheinungen sind wir im Oesterr.
Museum nicht im Geringsten überrascht; ich erinnere diesbezüglich nur an
den Vortrag, welchen ich am 27. October 1870 ȟber den deutsch
französischen Krieg und seinen Einfluss auf die Kunst
industrie« im Oesterr. Museum gehalten habe.*)
Im deutschen Reiche ist man von der Ueberzeugung durchdrungen,
dass es nunmehr Aufgabe des Reiches sei, auch auf dem Gebiete der
Kunst und Kunstgewerbe jene Weltstellung wieder zu erringen, welche das
deutsche Reich auf dem Flöhenpunkte seiner Entwickelung in früheren Jahr
hunderten auf dem Gebiete des Weltverkehres eingenommen hatte, und jenen
Platz auszufüllen, den es vermöge der künstlerischen und gewerblichen Be
fähigung seiner Bewohner einzunehmen berufen ist. Daher werden überall
neue Kunstschulen, Kunstgewerbeschulen und Museen gegründet, die alten
Anstalten reorganisirt; überall wird der Versuch gemacht, die verloren
') Abgedruckt in meinen »Gesammelten kunsthistorischen Schriften«. Bd. II. S. 3i5 ff.