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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

das finnische Volk beim ersten Landtag vom Kaiser Ale-- 
xander I., laut dessen eigenen Worten, „zur Anzahl der 
Nationen emporgehoben wurde“. Ebensowenig erzählt uns 
das Kunstwerk, daß der Nationaldichter JOHANN LUDWIG 
RUNEBERG in Borgä lebte und starb, daß er dort seine 
unsterblichen Gesänge dichtete über das Volk, „das fror und 
hungerte und dennoch siegte“. 
Nichts von alle diesem offenbarte sich dem Uneingeweihten. 
Nur dem Sohne des Landes enthüllte sich der reiche Ge^ 
dankeninhalt seiner Kunst. Aber auch ihn berührten die 
verschiedenen Bilder nicht mit gleicher Macht. Denn in Finnv 
land leben Seite an Seite zwei verschiedene Nationalitäten 
mit verschiedener Gemütsart: der schwedische Finnländer 
und der eigentliche Finne, beide Eingeborene des Landes. 
Zu welcher Zeit die verschiedenen Volkselemente einge^ 
wandert sind, ist wissenschaftlich noch nicht ins reine ge 
bracht worden. Eines steht fest, nämlich daß beide zusammen 
ein Volk mit einem gemeinsamen Vaterland ausmachen. 
Die schwedischen Finnländer leben an der Küste und die 
Finnen im Innern des Landes. Die Küstenbevölkerung hat 
den leichten offenen Sinn, den das Meer gestaltet. Der Be 
wohner des Inlandes dagegen ist träge und träumerisch. Das 
schwedische Volkslied klingt lebensfroh und keck, das fin 
nische ist melancholisch und klagend. Sagt doch auch ein 
finnisches Sprichwort: „Zum Fliegen ist das Vöglein da, 
doch der Traurige zum Singen.“ 
Die gemeinen Finnen, wie bekannt, mit den Ungarn ver 
wandt, sind ein poetisches Volk. Ihre wohlklingende Sprache, 
die besonders im Gesang an die italienische erinnert, ist be 
merkenswert reich an Ausdrücken und subtilen Nuancen. 
Es ist eine der interessantesten unter den finnisch-ugrischen 
Sprachen und im Besitz einer bedeutenden Volkspoesie 
sowie eines verblüffenden Reichtums an Sprichwörtern, die 
häufig in der Umgangssprache angebracht werden. Die alten 
mythologischen Legenden, vom unermüdlichen Ausbilder 
der finnischen Sprache, ELIAS LONNROT,. zu einem zu 
sammenhängenden Ganzen vereinigt im Nationalepos KA 
LEVALA, leben noch teilweise in mündlicher Tradition 
oder werden von der Bevölkerung auswendig gelernt. Man 
hört noch bisweilen, besonders im östlichen Teile des Landes, 
den von seiner Arbeit heimkehrenden Landmann die Kale 
vala skandieren. Die wahren Runensänger werden immer 
seltener. Ausnahmsweise kann man noch die alten Runen 
von Greisen vorgetragen zu hören kriegen, die sich dazu 
auf der „Kantele“ begleiten, „dem Werkzeug des Gesanges 
und der Freude“. Die Kantele, welche wohl am ehesten einer 
kleinen Harfe gleicht, mit ursprünglich nur fünf, später aber 
bis sechzehn Saiten, war in alten Zeiten das einzige Instru 
ment der Finnen. Auf demselben spielten sie ihre melan 
cholischen Melodien sowie auch ihre Tänze, als solche in 
Gebrauch kamen. Laut der Kalevala wurde die erste Kantele 
von WÄINÄMÖINEN verfertigt, der bedeutendsten mytho 
logischen Persönlichkeit der Finnen, einem großen Dichter 
und Sänger. Die fünf Saiten machte er sich aus den Haaren 
eines jungen Mädchens, das in ihrer Einsamkeit ihr Sehnen 
nach dem Geliebten in Lieder ergoß und ihr langes Haar 
der Kantele darbrachte. Wenn dann der alte Sängergott 
spielte, so eilten alle Gottheiten der Luft, des Meeres und 
des Waldes herbei, um zu lauschen und alle lebenden Wesen 
wurden zu Tränen gerührt. 
Gleichwie ihre älteste Gottheit kein Krieger, sondern ein 
Dichter war, so haben die Finnen auch immer Neigung 
empfunden für friedliche ideelle Gewerbe. Es scheint, als ob 
sie auch jetzt noch, mit dem Untergange vor den Augen, in 
ihre poetischen Träumereien versunken, die Befreiung vom 
Joch durch den bezaubernden Gesang eines neuen Wäinä- 
möinen abwarten. 
Die abendländische Kultur, die über das Meer aus Schweden 
nach Finnland eingeführt wurde, ist bis zu den jüngsten 
Tagen durch das schwedische Volkselement vertreten und 
erhalten worden. Sie hat aber auch allmählich das ganze 
Land befruchtet und sich dem rein finnischen Elemente mit 
geteilt, welches seit einem halben Jahrhundert sich dieselbe 
vermittelst ihres eigenen Sprachidioms angeeignet hat. In 
folgedessen ist durch die Berührung der Finnen mit dem 
Abendlande eine besondere nationale finnische Kultur auf 
der Basis einer eigenartigen Weltanschauung entstanden. 
Einen Einblick in diese Kultur, so wie sie gegenwärtig in 
ihren verschiedenen Phasen und Lebensäußerungen dasteht, 
will ich den Lesern der „HOHEN WARTE“ künftig zu 
geben versuchen. 
„DAS PUBLIKUM VERLANGT ES SO “ 
AUS „KUNST UND KULTUR“ VON HER 
MANN MUTHESIUS. 
H ier wäre ein Gebiet, wo die stets nach Neueroberungen 
auslugende Industrie einspringen könnte. Warum 
bringt sie keine künstlerisch guten Sachen als Massen 
artikel hervor? Warum ist heute das Einfache teuer 
und das Überladene billig? Warum ist kein einfacher und 
billiger Stuhl zu haben? Warum diese Schmutzfarben oder 
diese schreienden farbigen Kontraste an den Stoffen? 
Legt man diese Fragen dem Fabrikanten vor, so folgt die 
feststehende Antwort: das Publikum verlangt es so. Der 
Fabrikant muß es wissen, denn die Reisenden erzählen ihm 
ja genügend von ihren Erfahrungen mit der Kundschaft. 
Allerdings besteht diese Kundschaft des Fabrikanten zunächst 
aus Händlern, aber diese berichten gewiß auch ihrerseits nur 
ihre Erfahrungen mit dem Publikum. 
Diese für unser Kunstniveau traurigen Erfahrungen mit dem 
Publikum haben ja den Anschein der Richtigkeit. Zum Teil 
sind sie jedoch unzweifelhaft unzutreffend oder mindestens 
verzerrt wiedergegeben. Haben unsere Durchschnittsgeschäfte 
etwa schon das Bestreben bekundet, dem Publikum künst 
lerisch Gutes besonders zu empfehlen? Sind sie hierzu auch 
nur in der Lage? Man beobachte einmal den geschwätzigen 
Verkäufer hinter seinem Ladentisch. Er empfiehlt den größten 
Schund als besonders schön, als das Neueste, als das Modernste 
und damit Beste. Sein Ehrgeiz liegt gewiß nicht auf dem 
Gebiete des guten Geschmackes, selbst wenn er solchen hätte. 
Das Neueste will er haben, und er verlangt bei jedem Be 
suche des Fabriksreisenden wieder etwas Neueres, damit er 
dem Publikum nach vier Wochen bereits wieder das Aller 
neueste bieten kann. Dieser neuerungssüchtige Mann hinter 
dem Ladentische ist es, der den Volksgeschmack bestimmt, 
nicht das Publikum. Das Publikum benimmt sich dabei nur 
unglaublich töricht und läßt sich von diesem diktatorischen 
Vermittler zwischen Hersteller und Verkäufer in der unerhör 
testen Weise hinters Licht führen. Wer hätte nicht schon sein 
mitleidiges Lächeln bemerkt, wenn jemand nach etwas fragt, was 
vor einem Vierteljahr das Neueste und Schönste war, heute 
aber seiner Meinung nach überholt ist? Und hat nicht schon jeder 
einmal erfahren, mit welcher Überlegenheit ein solcher Laden 
besitzer selbst einem geschmacklich selbständigen Käufer 
gegenüber seine Ästhetik zu diktieren unternimmt? Der 
Mann ist eben gewohnt, sein Publikum in Geschmacksfragen 
unangezweifelt zu beherrschen“. 
Anm. d. R. 
Diese trefflichen Worte stehen in „Kunst und Kultur“ von 
Hermann Muthesius (verlegt bei Eugen Diederichs). Wir 
empfehlen das kleine Werk aufs wärmste. Es behandelt in 
schöner, sachlicher Form alle Fragen des heutigen Kultur 
lebens, und zeigt den richtigen Standpunkt auf, den der Ge 
bildete diesen wichtigen Zeit- und Streitfragen gegenüber ein 
nehmen soll. Es enthält durchwegs ausgezeichnete Wahrheiten, 
von denen manche vielleicht behaupten, daß sie nichts Neues 
wären. Wo aber finden wir sie wirksam im heutigen 
Leben? Darauf gibt es schwerlich eine befriedigende Ant 
wort. Darum können solche Wahrheiten nicht oft genug 
wiederholt werden.
	        
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