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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

durchgebildeten Volkskultur, die auch im geringsten Er^ 
Zeugnis den Stempel der vollkommensten sachgerechten und 
überlegenen Arbeitsleistung bot. Wenn man bedenkt, daß 
selbst die bedeutendsten Städte dieser Art nicht mehr als 
lo.ooo bis höchstens 20.000 Einwohner hatten, so bekommt 
man eine Ahnung von dem Anteil und Eifer, den jeder 
einzelne an diesen Schöpfungen hatte, von der hohen Geltung 
der menschlichen Begabungen und ihrer Leistungsfähigkeit 
und von dem Reichtum der Lebensführung, die ganz auf 
das werterzeugende Talent aufgebaut war. Standes^ und 
Klassenvorurteile hatten in der alten gotischen Wirtschafts- 
und Erziehungsordnung nicht Platz, nur Unterschiede des 
Könnens und der Tüchtigkeit mochten für das Fortkommen 
geltend sein. Eine Konkurrenz, die im Sinne von billig und 
schlecht zu überbieten sucht, war undenkbar, weil aller 
Wettbewerb auf die Überbietung in der Meisterlichkeit der 
Leistung ruhte und jede Leistung dem prüfenden Blick der 
Sachkenner und Könner standzuhalten hatte. Jene kauf- 
männische Ehre, die dem Käufer eine Billigkeit gewährt, 
die nur noch von der Schlechtigkeit des Produktes und der 
noch größeren Bedrückung des Arbeiters überboten wird 
und die einen zweifachen Betrug, einmal an dem bedrückten 
Hersteller und das andere Mal an dem unwissenden und 
irregeführten Käufer darstellt, würde mit schimpflichem 
Pranger bestraft worden sein, zum Unterschiede von der 
heutigen Wirtschaftsordnung, die eine solche gaunernde 
Findigkeit mit hohen Titeln und Orden auszuzeichnen pflegt. 
Die sprichwörtliche Tatsache, daß „wer billig kauft, teuer kauft“, 
hat die Betrogenen zu keiner Auflehnung gegen den durch 
Billigkeit schlechtverhehlten mehrfachen Betrug zu bringen 
vermocht. In ihrer Sprichwörtlichkeit liegt bloß die stumpf' 
sinnige und stillschweigende Anerkennung eines notwendigen 
Übels, gegen die sich auch die Reizbarkeit der zünftigen 
Göttin Gerechtigkeit vollkommen teilnahmslos verhält. 
Denn, so wird man jetzt mit triumphierender Eckensteher' 
Weisheit erwidern, wer kein Geld hat, muß billig kaufen 
können, und die meisten Leute haben kein Geld! Diese 
gefällige Erwiderung stellt mich gleich auf das Sprungbrett 
meines Anlaufes. Ich will mich nicht länger als vorüber' 
gehend bei der sonderbaren Logik dieser landläufigen Er' 
widerung aufhalten, daß es gerade immer die Ärmsten sein 
müssen, die am meisten betrogen werden, ich will lieber 
sofort das unselig verworrene Wirtschaftsproblem anspringen 
und fragen, ob denn nicht auch heute noch, wie seit Anfang 
der Welt, jeder einzelne Mensch mit seinen ungeheuren 
entwicklungsfähigen Kräften als Wertbildner und einzige 
Wertquelle, die alles, was ist, erschaffen hat, zu betrachten 
ist und ob das einzelne Menschentum, richtig entwickelt, 
nicht so viel und noch viel mehr hervorzubringen vermag, 
als es für seinen angemessenen Unterhalt nötig hat? Ange' 
messen ist der Unterhalt erst dann, wenn er zu den Kultur' 
gütern einer Zeit im richtigen Verhältnis steht. Wenn in 
den Wäldern und Sümpfen, die einst den Boden bedeckten, 
auf dem heute Berlin steht, der einsam schweifende Jäger 
mit seiner Kraft und Geschicklichkeit sein Wildbret erlegte, 
das ihm den Unterhalt bot, so war dieser Unterhalt durchaus 
angemessen, d. h. im richtigen Verhältnis zur Kulturhöhe 
seiner Zeit und den von ihr abhängigen menschlichen Am 
Sprüchen. Seither hat sich das Weltantlitz völlig verändert, 
die gemeinsame Menschenarbeit hat eine unübersehbare 
Fülle von Gütern hervorgebracht; wo Wälder und Sümpfe 
lagen, erhebt sich eine glänzende Stadt mit herrlichen 
Palästen, reichen Läden, lärmenden Vergnügungshallen und 
in dieser glänzenden Stadt leben mehrere hunderttausend 
Menschen in bitterster Armut angesichts des in der Stadt 
ringsum angehäuften Überflusses an allen möglichen Gütern 
und sie leben da entblößt von allem Notwendigsten, als ge' 
nügend Nahrung, Kleidung, Behausung, geistigen Mitteln etc.; 
aller Roheit und Unwissenheit, allem Laster und Verbrechen 
preisgegeben, in einem Kulturzustand, der tief unter jenem 
des einsam schweifenden Jägers vor nahezu zweitausend 
Jahren steht. Das glaube ich einen unangemessenen Unterhalt 
nennen zu dürfen. Was hat die Menschheit bei aller Her' 
vorbringung ungeheurer Reichtümer gewonnen, wenn sie 
am Ende wie jener mythische König, dem alles, was er berührte, 
unter den Händen zu Gold wurde, darbend vor der erlesenen 
Fülle unermeßlicher Gebrauchs' und Verbrauchsgüter steht und 
bei vollen Schüsseln hungernd zu gründe geht? Ist dabei 
nicht ein fauler Zauber im Spiel, der gebrochen werden 
muß ? Ich kehre zu meiner Fragestellung zurück und nehme 
als durch die ganze Menschheitsgeschichte genügend erwiesen 
an, daß alle Hervorbringung, alle Fruchtbarkeit, aller Reichtum 
an Gütern irgend welcher Art im Menschen beruht. Wenn 
das zugegeben ist — und ich glaube, es wird keinen ernst' 
haften Menschen geben, so töricht, diese einfache Wahr' 
heit nicht einsehen zu wollen — dann habe ich für meine 
Sache so ziemlich alles gewonnen, als deren Ausgangspunkt es 
immer gilt, daß das kostbarste, wichtigste und höchste Gut, das 
wir zu pflegen haben, der Mensch ist. Und wenn also das zu' 
gegeben ist, muß es nicht als eine furchtbare Schmach und 
Schande für die Menschheit bezeichnet werden, daß sie einen 
so erheblichen Teil, es ist gewiß der größere, in Not und 
Elend verkommen läßt, daß sie längst in der Hilflosigkeit 
ihrer Lage verlernt haben, ihre Kräfte zur Vermehrung der 
Schönheit der Erde und ihres eigenen Lebens zu verwenden 
oder zu entwickeln, und daß sie, so gering ihre LeistungS' 
kraft auch geworden sein mag, immer noch mehr geben 
müssen als sie nehmen? Daß sie, wie wenig sie auch kaufen 
und erwerben können, wenn sie billig kaufen, immer teuer 
kaufen und die Hintergangenen sind? Wie roh und ab' 
stoßend sie in der Hilflosigkeit ihres Elendes auch geworden 
sind, so tragen sie immerhin noch die göttlichen Male als 
die Märtyrer der Gesellschaft, die es dahin gebracht hat, daß 
ein so erheblicher Teil, wenn nicht der größere, in einem 
Zustande lebt, der im Verhältnis zu den sonstigen Kultur' 
gütern der Zeit so tief reicht, daß selbst der Jäger oder 
Fischer der Urzeit ihn an Kultur hoch überragt? So ab' 
scheulich und widerwärtig die Laster und Verbrechen sind, 
die von daher kommen, so fallen ihre blutigen Schatten auf 
eine Gesellschaft zurück, die sie beschworen hat, indem sie 
einen allzu leichtfertigen, egoistischen und räuberischen 
Gebrauch mit dem kostbaren Menschengut getrieben und 
in wirtschaftlicher Wahnverblendung überall nach dem Golde 
geschürft hat, nur nicht da, wo es zutage liegt, im Menschen mit 
allen seinen schöpferischen Fähigkeiten und seinen verderb' 
liehen Kräften, wenn er das Opfer des Mißbrauchs geworden. 
Ich lasse diese Seite der wirtschaftlichen Schäden vorläufig 
stehen, um bei der Untersuchung der Ursachen und Beseiti' 
gung solcher Mißstände dieses Thema wieder aufzunehmen. 
Ich möchte vorher konstatieren, daß es selbst nach dieser 
Seite hin noch nicht so schlimm stünde, wenn nicht jener 
gewiß kleinere Teil der heutigen Menschheit, die als die 
Besitzenden auf der anderen, sonnigen Seite stehen, eben' 
falls dem herrschenden Grundsatz von billig und schlecht 
huldigen würden. Es ist gar nicht wahr, daß die armen 
Leute, die sich durch ihre Zwangslage entschuldigen können, 
nach dem Grundsätze von billig und schlecht leben wollen, 
es sind vielmehr gerade die wohlhabenden Leute, die auch 
hierin den Ton angeben und die diesen Grundsatz einer 
betrügerischen Erbärmlichkeit zur Lebensnorm erhoben haben. 
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