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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Blumen von 
E. R. Weiß, Hagen i. W. 
Siehe Text Seite 200. 
geschehenen, vor den kommenden Ereignissen zu gestaltetem 
Dasein, sondern es werden daraus Architekturen, Gärten, 
Fontänen, sichtbare Kunst, entstehen und in der Sprache 
ihres spezifischen Materials das Geheimnis der Dichtung offem 
baren. 
Es wird immer das Geheimnisvolle sein, das Wunderbare, 
das Schreckhafte, vor allem aber das Ungewöhnliche, das 
Persönliche. Aber was der Wortdichtung möglich ist, gilt 
nicht immer wörtlich für das Material der anderen Künste. 
Was in der Abstraktion der Wortdichtung wundervoll ist, 
kann in der Wiederholung durch das reale Material anderer 
Künste leicht banal erscheinen. Es ist bereits gesagt: die 
Kunst soll nicht die Worte wörtlich nachahmen. Sie suche 
auf ihrem eigenen Wege, durch die Natur ihres spezifischen 
Materials zu ähnlichen Wirkungen zu gelangen, durch jene 
künstlerische Abstraktion, die bei der Natur studiert und 
sich bewußt von dem Naturalismus entfernt. Innerhalb 
ihrer künstlerischen Logik, dem Gesetz der organischen Form 
gemäß, ist der Dichtung jedes Maß von Übertreibung an 
gemessen. Ihre Todsünde ist das Gewöhnliche; sie ist keinen 
Wahrheitsbeweis schuldig, sie braucht sich keinen anderen 
Maßstab gefallen lassen als den ihrer eigenen Phantasie. 
Das Unerhörte, Karikaturistische, Groteske, Paradoxe, jedes 
ungewöhnliche Mittel, die Gewöhnlichkeit der Erscheinungen 
durch neue Offenbarungen zu beschämen, ist ihr gerade 
recht. 
Die banale Wirklichkeit, den Naturalismus zu überwinden, 
ist in Gemeinschaft mit allen Künsten ihr eigentliches 
Ziel. Die Natur ist schön als Natur, die Kunst ist schön 
als Kunst. 
AUFERSTEHUNG. 
Brave Leute sind nicht fromm. 
Nur großen Sündern und großen Ketzern winkt der Heiligen 
schein. Ketzer oder Sünder, das waren die Heiligen. 
Religiöse Menschen sind immer ketzerisch. 
Gnadenreiche Madonnen! Die fromme Gebärde, das züchtige 
Lächeln sind der schönen Sünde stärkste Mittel. Sie sind 
durchaus überzeugend. Ohne die Sündhaftigkeit wäre diese 
Haltung absolut nichtssagend. 
Die Sünde ist das Natürliche; alles andere ist Kunstform, 
die sie uns bequem oder angenehm macht. Schließlich ist 
auch die Moral eine (wenn auch abgebrauchte) Kunstform, 
welche die geheiligte Sünde gesetzmäßig regelt. Ist eine Sünde 
langweilig und abgebraucht, der Geistigkeit entkleidet, dann 
tritt ein neues Reizmittel an ihre Stelle. Es ist immer in 
erster Linie eine Kunstfrage. Jede neue Kunst ist die Ver 
geistigung eines neuen Sündenfalles, eine Frucht vom Baume 
der Erkenntnis. Jede neue Kunst zeugt Ketzer und Märtyrer, 
die später sicher heilig gesprochen werden. Dann sind sie 
eigentlich erst reif, bekämpft zu werden. 
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