Blumen von
E. R. Weiß, Hagen i. W.
Siehe Text Seite 200.
geschehenen, vor den kommenden Ereignissen zu gestaltetem
Dasein, sondern es werden daraus Architekturen, Gärten,
Fontänen, sichtbare Kunst, entstehen und in der Sprache
ihres spezifischen Materials das Geheimnis der Dichtung offem
baren.
Es wird immer das Geheimnisvolle sein, das Wunderbare,
das Schreckhafte, vor allem aber das Ungewöhnliche, das
Persönliche. Aber was der Wortdichtung möglich ist, gilt
nicht immer wörtlich für das Material der anderen Künste.
Was in der Abstraktion der Wortdichtung wundervoll ist,
kann in der Wiederholung durch das reale Material anderer
Künste leicht banal erscheinen. Es ist bereits gesagt: die
Kunst soll nicht die Worte wörtlich nachahmen. Sie suche
auf ihrem eigenen Wege, durch die Natur ihres spezifischen
Materials zu ähnlichen Wirkungen zu gelangen, durch jene
künstlerische Abstraktion, die bei der Natur studiert und
sich bewußt von dem Naturalismus entfernt. Innerhalb
ihrer künstlerischen Logik, dem Gesetz der organischen Form
gemäß, ist der Dichtung jedes Maß von Übertreibung an
gemessen. Ihre Todsünde ist das Gewöhnliche; sie ist keinen
Wahrheitsbeweis schuldig, sie braucht sich keinen anderen
Maßstab gefallen lassen als den ihrer eigenen Phantasie.
Das Unerhörte, Karikaturistische, Groteske, Paradoxe, jedes
ungewöhnliche Mittel, die Gewöhnlichkeit der Erscheinungen
durch neue Offenbarungen zu beschämen, ist ihr gerade
recht.
Die banale Wirklichkeit, den Naturalismus zu überwinden,
ist in Gemeinschaft mit allen Künsten ihr eigentliches
Ziel. Die Natur ist schön als Natur, die Kunst ist schön
als Kunst.
AUFERSTEHUNG.
Brave Leute sind nicht fromm.
Nur großen Sündern und großen Ketzern winkt der Heiligen
schein. Ketzer oder Sünder, das waren die Heiligen.
Religiöse Menschen sind immer ketzerisch.
Gnadenreiche Madonnen! Die fromme Gebärde, das züchtige
Lächeln sind der schönen Sünde stärkste Mittel. Sie sind
durchaus überzeugend. Ohne die Sündhaftigkeit wäre diese
Haltung absolut nichtssagend.
Die Sünde ist das Natürliche; alles andere ist Kunstform,
die sie uns bequem oder angenehm macht. Schließlich ist
auch die Moral eine (wenn auch abgebrauchte) Kunstform,
welche die geheiligte Sünde gesetzmäßig regelt. Ist eine Sünde
langweilig und abgebraucht, der Geistigkeit entkleidet, dann
tritt ein neues Reizmittel an ihre Stelle. Es ist immer in
erster Linie eine Kunstfrage. Jede neue Kunst ist die Ver
geistigung eines neuen Sündenfalles, eine Frucht vom Baume
der Erkenntnis. Jede neue Kunst zeugt Ketzer und Märtyrer,
die später sicher heilig gesprochen werden. Dann sind sie
eigentlich erst reif, bekämpft zu werden.
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