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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Shintüamulett eingeklemmt und die gespaltenen Enden des 
Rohres sind gerade darüber wieder zusammengefügt und 
festgebunden. Aus einer kleinen Entfernung gesehen, hat 
das Ganze das Aussehen eines langen, leichten, gutgefiederten 
Pfeils. Der erste, den ich untersuche, trägt die Worte: „Yu^ 
asaki-jinja^kozen^somchu^an-zen.“ (Von dem Gotte, dessen 
Schrein vor dem Dorfe des Friedens steht.) Ein anderer 
trägt die Inschrift: „Miho-'jinja^shö'gwan'jü^jugO'kitö-shugo,“ 
was bedeutet, daß die Gottheit des Tempels Miho-jinja jeder 
an sie gerichteten Bitte Gehör schenkt. Beim Weiterfahren 
sehe ich überall die weißen Gebetpfeile über die grüne 
Reisfläche schimmern und sie werden immer zahlreicher. 
Soweit das Auge reicht, sind die Felder davon gesprenkelt, 
so daß die grünende Flur wie mit weißen Blumen übersät 
erscheint. 
Manchmal bemerke ich auch rings um ein kleines Reisfeld 
eine Art magischer Hecke, von kleinen Bambusstäben 
gebildet, die ein langes Seil tragen, von dem lange Strolv 
halmfransen herabhängen und dazwischen in regelmäßigen 
Abständen Papierschnitzel (Goheis) die Symbole sind. Das 
ist das Shimenawa, das heilige Shintöemblem. In diesen 
heiligen Bannkreis findet der Reif keinen Eingang, keine 
sengende Sonne dörrt die jungen Schößlinge; und wo die 
weißen Pfeile schimmern, werden die Heuschrecken nicht 
überhandnehmen, noch diebische Vögel Schaden anrichten. 
Vor allen Unbilden ist solch ein Feld geschützt. 
Aber nun blicke ich vergebens nach Buddhas aus, vorbei 
ist es mit den großen Teras, man sieht keinen Shaka, keinen 
Amida, keinen Daimichi'Nyorai, selbst Bosatsu haben wir 
hinter uns gelassen; Kwamon und ihre heilige Sippe ist 
verschwunden. Wohl ist ja Kohsin, der Herr der Wege, 
noch mit uns — aber er hat seinen Namen gewechselt 
und ist eine Shintügottheit geworden — er heißt jetzt Saruda^ 
Hiko no mikoto; und seine Gegenwart künden nur die 
Statuen der drei mystischen Affen, die seine Diener sind — 
Mizaru, der seine Augen mit den Händen bedeckt und 
nichts Böses sieht; 
Kikazaru, der seine Ohren mit den Händen bedeckt und 
nichts Böses hört; 
Iwazaru, der seinen Mund mit den Händen bedeckt und 
nichts Böses spricht. 
Doch nein! EIN Bosatsu hat sich noch in der Zauber^ 
atmosphäre dieses magischen Shintöismus erhalten. Noch 
immer sehe ich in langen Zwischenräumen am Wegrand 
das Bildnis Jizö^-Samas, des entzückenden Spielgenossen der 
toten Kinder. Aber auchjizö ist ein wenig verändert; selbst 
in dieser sechsfachen Darstellung, Roku-Jizö, erscheint er 
nicht stehend, sondern auf seinem Lotos sitzend und ich 
sehe keine Steine vor ihm aufgeschichtet wie in den öst' 
liehen Provinzen. 
Von der Höhe eines ungeheuren Bergabhangs senkt sich 
plötzlich der Weg zu einem Gewirr hochgiebeliger Dächer 
und bemooster Dachtraufen, zu einem Dörfchen, wie ein 
Farbendruck aus dem Bilderbuch des alten Hiroshige — 
ein Dörfchen, dessen Farben und Töne den Farben und 
Tönen der Landschaft gleichen, in der es liegt. Dies ist 
KamiTchi' in dem Lande Hüki. 
Wir machen vor einer stillen, altersgeschwärzten kleinen 
Herberge halt, deren greiser Wirt herbeieilt, um uns zu 
begrüßen, während eine schweigende sanfte Menge von 
Landleuten — meist Frauen und Kinder, die Kuruma unv 
ringen, um den Fremden zu begucken, zu bestaunen, ja, 
sogar seine Kleider mit schüchterner, lächelnder Neugier zu 
betasten. Ein Blick auf das Antlitz des greisen Herbergs^ 
vaters bestimmte mich, bei ihm einzukehren. Ich muß hier 
bis morgen bleiben: denn meine Läufer sind zu müde, um 
noch heute abend die Reise fortzusetzen. 
So mitgenommen von Zeit und Wetter das Häuschen von 
außen scheint, so entzückend ist es im Innern. Seine polierten 
Treppen und Baikone sind so makellos blank, daß sie gleich 
sam wie Spiegelflächen die nackten Füße der Hotelmädchen 
wiederspiegeln — die reinlichen Zimmer duften so lieblich, 
als wären ihre weichen Matten eben erst ausgebreitet worden 
und die Blätter der Blumen an den aus irgend einer schwarzen 
kostbaren Holzart geschnitzten Säulen des Alkovens (toko) 
in meinem Zimmer sind ein Wunder an Schönheit. Der 
dort hängende Kakemone ist ein Idyll — Hotei, der Gott 
des Glücks, gleitet in einem Boote über einen schimmernden 
Strom in das Geheimnis eines purpurumwobenen Abends. 
So entfernt auch dieser Weiler von jedem Kunstzentrum 
ist, so sieht man in diesem Hause doch keinen einzigen 
Gegenstand, der nicht den japanischen Sinn für Formen 
schönheit offenbarte. Die alten goldgeblumten Lackarbeiten, 
die wunderbare Büchse, in der Süßigkeiten (kwashi) auf 
bewahrt werden, die durchsichtigen Porzellanweinkelche mit 
der leichthingeworfenen Zeichnung einer einzigen Garneele, 
die Teetassen, deren Untersätze gekräuselte Lotosblätter aus 
Bronze sind, selbst der eiserne Kessel mit dem Drachen- 
und Wolkenmuster und das Messing-Hibachi, dessen Henkel 
buddhistische Löwenköpfe sind, entzücken das Auge und 
erfreuen die Phantasie. Und wirklich, wo man heutzutage 
in Japan etwas völlig Uninteressantes in Porzellan oder 
Metall sieht, etwas alltäglich Banales oder Häßliches, kann 
man beinahe sicher sein, daß dieses abscheuliche Etwas 
unter fremdem Einfluß entstanden ist. Aber hier bin ich 
noch im alten Japan und wahrscheinlich hat noch kein 
europäisches Auge vor mir auf diese Dinge geblickt. 
Ein herzförmiges Fenster lugt auf den Garten hinaus — 
einen wunderlichen kleinen Garten mit einem winzigen 
Weiher und Miniaturbrücken und Zwergbäumen — wie 
die Landschaft auf einer Teetasse — natürlich sind auch 
schöne Steine da und einige anmutige Steinlaternen oder 
Türö, wie man sie in Tempelhöfen aufstellt. Und darüber 
sehe ich Lichter durch das warme Dämmer — farbige 
Lichter —, die Laternen des Bonku, die man vor allen 
Häusern aufgehängt hat, als Willkommsgruß für die er 
warteten lieben Geister der Abgeschiedenen. Denn nach dem 
alten Kalender, nach dem man in dieser alten Provinz rechnet, 
ist dies die erste Nacht des Festes der Toten. 
Wie in allen anderen kleinen Dörfchen, wo ich mich unter 
wegs aufgehalten, finde ich die Bewohner liebenswürdig 
gegen mich, von einer Herzlichkeit und Höflichkeit, die man 
sich nicht vorstellen kann, die unbeschreiblich ist und die 
man in anderen Ländern gar nicht kennt, ja, die man selbst 
in Japan nur im Innern des Landes findet. Ihre schlichte 
Höflichkeit hat nichts Gemachtes; ihre Güte ist durchaus 
unbewußte Güte — beide kommen gerade aus dem Herzen. Und 
nach kaum zweistündigem Beisammensein mit diesem liebens 
würdigen Völkchen ruft seine Art, mir entgegenzukommen, 
im Verein mit dem Gefühl meiner gänzlichen Unfähigkeit, 
solche Güte zu erwidern, einen abscheulichen Wunsch in 
mir wach: Ich wünsche, diese entzückenden Menschen möchten 
mir irgend ein unerwartetes Übel zufügen, etwas erstaunlich 
Böses, etwas abscheulich Schlechtes, so daß ich nicht genötigt 
wäre, ihnen nachzutrauern, was ich sicherlich tun werde, 
sobald ich sie verlassen muß. 
Während der alte Wirt mich zum Bad geleitet und darauf 
besteht, mich selbst zu waschen, als wäre ich ein Kind, 
bereitet seine Frau für uns ein köstliches kleines Mahl, 
bestehend aus Reis, Eiern, Gemüsen und Süßigkeiten. Sie 
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