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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

macht sich große Sorge, ob es ihr auch gelingen wird, 
meinen Geschmack zu treffen, selbst nachdem ich mehr als 
genug für zwei Personen gegessen habe, und erschöpft sich 
in Entschuldigungen, mir nicht mehr bieten zu können. 
„Fische gibt es heute keine,“ sagte sie, „denn heute ist der 
erste Tag des Bonku, des Festes der Toten, der auf den 
13. Tag des Monats fällt. Am 13., 14. und 15. des Monats 
darf niemand Fische essen, aber am Morgen des 16. Tages 
gehen die Fischer auf Fang aus; und jeder, dem beide Eltern 
noch am Leben sind, darf davon essen. Aber wer Vater 
oder Mutter verloren hat, darf selbst am 16. Tag keinen 
Fisch essen.“ Während die gute Seele so plaudert, schlägt 
ein seltsamer Schall aus der Ferne an mein Ohr — ein 
Schall, den ich von den Tänzen in den Tropen her kenne, 
ein regelmäßiges, abgemessenes Händeklatschen. — Aber 
das Händeklatschen ist sehr sanft und ertönt in langen 
Intervallen — und in noch längeren Intervallen hallt zu uns 
ein dumpfes, wuchtiges Dröhnen, — die Schläge einer großen 
Trommel, einer Tempeltrommel. 
„O! Wir müssen hingehen, es ansehen,“ ruft Akira, „das 
ist das Bomodori, der Tanz des Festes der Toten. Und Sie 
werden das Bomodori hier tanzen sehen, wie man es sonst 
in den Städten nirgends sehen und hören kann, das Born 
odori der uralten Zeiten, denn hier ist alles so geblieben, 
wie es war; aber in der Stadt ist alles anders geworden.“ 
So mache ich mich eilends auf den Weg, bekleidet mit nur 
einem jener leichten, weitärmeligen Sommergewänder — 
Yukata — die alle japanischen Hotels den männlichen 
Gästen zur Verfügung stellen. Aber die Luft ist so warm, 
daß ich selbst in diesen, so dünnen Kleidern leicht transpiriere. 
Doch die Nacht ist göttlich — ruhevoller, klarer, tiefer als 
europäische Nächte, mit einem großen, weißen Mond, der 
wunderliche Schatten zugespitzter Dachtraufen, sichelförmiger 
Giebel und wundersame Silhouetten festlich gekleideter 
Japaner zeichnet. Ein kleiner Knabe, der Enkel unseres 
Wirtes, geht mit einer scharlachroten Laterne voran, wir 
folgen; und das sonore Echo der Getas, das Koro'koro der 
Holzpantinen erfüllt die ganze Straße, denn gar viele kommen 
denselben Weg wie wir, um den Tanz zu sehen. 
Eine kurze Strecke geht es durch die Hauptstraße; dann 
einen kleinen engen Durchlaß zwischen zwei Häusern 
passierend, gelangen wir auf einen weiten, offenen, vom 
Mondlicht umfluteten Platz. Das ist der Tanzplatz; aber der 
Tanz ist für eine Weile unterbrochen worden. Ich blicke um 
mich und sehe, daß wir uns in dem Hofe eines uralten 
Buddhatempels befinden. Das Tempelgebäude selbst, ein 
niederer, langgestreckter Bau, ist zu der Veranstaltung nicht 
herangezogen worden. Verödet, dunkel und leblos streckt es 
seine lange, niedere, spitze Silhouette zum Sternenlicht empor 
— es ist jetzt zu einer Schule umgewandelt, sagt man mir. 
Die Priester sind weg, die große Glocke ist fort, die Buddhas 
und die Bodhisattvas sind verschwunden, alle bis auf einen — 
einen Jizö aus Stein, der mit abgebrochener Hand und ge 
schlossenen Lidern im Mondschein lächelt. 
In der Mitte des Hofes steht ein Bambusgestell, auf dem 
eine große Trommel ruht; und ringsherum hat man Bänke 
aufgestellt, Bänke aus dem Schulhaus, auf denen Landleute 
sitzen. Man hört ein Stimmengesurr, Stimmen von Menschen, 
die in gedämpftem Tone sprechen, wie in Erwartung von 
etwas Feierlichem — und ab und zu Kindergeschrei und 
leises Mädchenlachen. Und weit hinter dem Hof über einer 
niedrigen Hecke dunkler, immergrüner Sträucher sehe ich 
milde, weiche, weiße Lichter und eine Schar großer, grauer 
Formen, die lange Schatten werfen. Und ich weiß, daß die 
Lichter die weißen Laternen der Toten sind, wie sie nur in 
Friedhöfen hängen, und daß die grauen Formen Silhouetten 
von Gräbern sind. 
Plötzlich erhebt sich ein Mädchen von seinem Sitz und schlägt 
auf die große Trommel. Das ist das Signal für den Tanz 
der Seelen. 
Aus dem Schatten des Tempels gleitet ein Zug Tanzender 
in das Mondlicht und macht plötzlich halt — lauter junge 
Frauen und Mädchen in ihren erlesensten Gewändern: die 
Größte führt den Zug an, ihre Genossinnen folgen, nach der 
Größe geordnet, und kleine Mädchen von zehn und zwölf 
Jahren beschließen die Prozession. Gestalten, leicht beschwingt 
wie Vögel — Gestalten, die einem unwillkürlich die traum 
haft schwebenden Figuren auf antiken Vasen in Erinnerung 
rufen; wären nicht die weiten, phantastisch wallenden Ärmel 
und die wundersamen, breiten Gürtel, man wäre versucht, 
jene entzückenden japanischen, sich dicht an die Knie 
schmiegenden Gewänder für Nachahmungen der Zeichnungen 
griechischer und etruskischer Künstler zu halten. Und nach 
einem zweiten Trommelschlag beginnt ein Schauspiel, das 
Worte unmöglich wiedergeben können, etwas Unsagbares — 
ein Tanz, eine Phantasmagorie, eine Offenbarung. 
Wie auf ein gegebenes Zeichen gleiten alle zusammen mit 
dem rechten Fuß einen Schritt vorwärts, ohne die Sandalen 
vom Boden zu heben, und alle strecken beide Hände nach 
rechts mit einer seltsam fließenden Wellenbewegung und 
einer lächelnden geheimnisvollen Verbeugung. Dann wird 
der rechte Fuß zurückgezogen, mit einem abermaligen Hände 
winken und geheimnisvollen Neigen. Dann treten alle mit 
dem linken Fuß vor und wiederholen die früheren Bewegungen 
mit einer halben Wendung nach links. Dann machen alle 
zwei Schritt nach vorn, mit einem einzigen leichten Hände 
klatschen und hierauf werden die früheren Gesten abwechselnd 
nach rechts und links wiederholt; alle sandalenbegleiteten 
Füße gleiten zusammen, alle die biegsamen Körper, alle die 
weichen Hände winken zusammen, neigen und wiegen sich 
zusammen. Und so geheimnisvoll, langsam schließt sich die 
wallende Prozessionsbewegung zu einer großen Runde, die 
den mondbeglänzten Hof und die Zuschauermenge umkreist. 
Und immer winken die weißen Hände gleichzeitig, wie ge 
heimnisvolle Zauber webend, bald innerhalb und bald außer 
halb des Kreises, bald mit erhobenen, bald mit gesenkten 
Armen, und alle die elfenhaften Ärmel huschen durchein 
ander wie große Fittiche. Und die gleichzeitige Bewegung 
all der kleinen Füßchen vereinigt sich zu einem solchen 
Rhythmus, daß wenn man darauf sieht, man sich gleichsam 
hypnotisiert fühlt, als mühte man sich, ein fließendes, 
schimmerndes Wasser mit den Blicken festzuhalten. 
Und diese magische Betäubung wird noch gesteigert durch 
die lautlose Stille ringsum; niemand spricht, auch keiner der 
Zuschauer. Und in den langen Pausen zwischen dem langen 
Händeklatschen hört man das Zirpen der Grillen in den 
Bäumen und das Shu-shu der den Staub leicht aufwirbelnden 
Sandalen. Womit, frage ich mich innerlich, kann diese ver 
glichen werden? Mit nichts. Aber es suggeriert einen som 
nambulen Zustand — Träumer, die zu fliegen träumen, 
wachend träumen. 
Und mich überkommt der Gedanke, daß ich hier etwas un 
erdenklich Altes vor mir sehe, etwas, das den Uranfängen 
des orientalischen Lebens angehört, vielleicht dem dämmer 
haften Kamiyo selbst, dem magischen Zeitalter der Götter; 
einen Somnambulismus der Bewegung, dessen Bedeutung seit 
zahllosen Jahren der Vergangenheit anheimgefallen ist. Und 
immer unwirklicher wird das Schauspiel mit seinem stummen 
Lächeln, seinem schweigenden, geheimnisvollen Neigen, wie 
das Grüßen unsichtbarer Beobachter — und ich frage mich. 
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