ob nicht bei dem allerleisesten Ton alles wie ein Spuk für
immer verschwunden sein würde und nichts übrig bliebe
als der modernde Hof, der verödete Tempel und die zer^
brochene Statue des Jizü mit jenem geheimnisvollen Lächeln,
wie ich es auf dem Antlitz der Tänzerinnen sehe.
Unter dem gleitenden Mond inmitten der Runde fühle ich
mich wie in einem Zauberbann. Und fürwahr, dies ist Be
zauberung — ich bin berückt, berückt von dem geisterhaften
Winken der Hände, von dem rhythmischen Gleiten der Füße
und vor allem von dem Wallen und Wogen der wunder
samen Ärmel, schemenhaft, lautlos, sammetweich wie der
Flügelschlag großer tropischer Fledermäuse. Nein — nichts,
was ich je geträumt, ließe sich damit vergleichen — und
bei dem Gedanken an die uralte Hakaba hinter mir, mit
den geheimnisvollen Willkommsgrüßen ihrer Laternen und
den geisterhaften Vorstellungen, die sich an diese Stunde
und diesen Ort knüpfen, überrieselt mich ein namenloser
Schauer, unter Gespenstern zu weilen. Doch nein! Diese an
mutigen, schweigenden, winkenden Gestalten gehören nicht
zu den schattenhaften Gästen, für deren Kommen die weißen
Feuer entzündet wurden — ein Sang voll klarer, bebender
Süßigkeit wie ein Vogelruf löst sich von Mädchenlippen
und fünfzig weiche Stimmen fallen ein:
„Soröta soroimashita odoriko ga soröta,
Sorokite, kita hare yukata!“
„Dem Auge gleichförmig (wie Reisähren im Felde), alle gleich
in sommerliche Festgewänder gekleidet, hat sich die Tänzer
schar versammelt."
Und wieder nur das Zirpen der Grillen, das Shu-shu der
Sandalen, das sanfte Händeklatschen und der wogende,
schwebende, feierliche Tanz fährt fort, magnetisch langsam,
mit einer seltsamen Anmut, die gerade in ihrer Naivität so
alt scheint wie der Hügelkranz, der sie einschließt.
Jene, die dort den jahrhundertlangen Schlaf schlafen unter
den grünen Steinen, wo die weißen Laternen sind, und ihre
Väter und ihrer Väter Väter und die unbekannten Gene
rationen vor ihnen, begraben auf Friedhöfen, die seit Tausenden
von Jahren vergessen sind, auch sie haben sicherlich auf
ein Schauspiel wie dieses geblickt. Ja, dieser von den jungen
Füßen aufgewirbelte Staub war menschliches Leben und
sang und lächelte ebenso unter demselben Mond „mit
wallenden Schritten und winkenden Händen“.
Plötzlich wird das Schweigen durch den Gesang tiefer Männer
stimmen unterbrochen. Zwei Riesen haben sich der Runde
angeschlossen und führen sie nun an. Zwei prächtige Bauern
burschen aus den Bergen, fast nackt und um Haupteslänge
die ganze Versammlung überragend. Ihre Kimonos sind wie
Gürtel um den Leib gerollt und lassen ihre Bronzeglieder
der Luft und der Sonne ausgesetzt. Sie sind sonst mit nichts
bekleidet als mit ungeheuren Strohhüten und weißen Tabis,
die eigens für dieses Fest angefertigt werden. Nie vorher
habe ich unter diesem Volke solche Muskeln gesehen, aber
ihre lächelnden, bartlosen Gesichter sind hübsch und gut
mütig wie die japanischer Knaben. Sie scheinen Brüder zu
sein, so gleichen sie einander in ihrem Körperbau, ihren
Bewegungen und dem Klang ihrer Stimmen, als sie den
Gesang intonieren:
„No demo yama demo ko wa umiokeyo,
Sen ryö kura yori ko ga takara.“
„Ob im Felde geboren oder auf Bergeshöhen, weit kostbarer
als ein Schatz von tausend Ryos ist ein Kind.“
Und Jizü, der Freund der Kindergeister, lächelt durch das
Schweigen.
Diese Seelen sind eins mit der Naturseele, ungekünstelt und
rührend ist ihr Denken, wie die Anbetung jener Kishibojin,
zu der die Frauen beten. Und als die Strophe verklungen
ist, antworten die süßen Frauenstimmen:
„Omou otoko ni sowasanu oya wa,
Oya de gozaranu ko no kataki.“
„Die Eltern, die sich der Vereinigung ihrer Tochter mit dem
Geliebten widersetzen, sind nicht des Kindes Eltern, sondern
seine Feinde.“
Und Lied folgt auf Lied und der Kreis wird immer größer
und die Stunden fliegen dahin, unbemerkt und ungefühlt,
während der Mond über die blauen Hänge der Nacht herab- ,
schwebt.
Plötzlich rollt ein tiefes, leises Dröhnen über den Hof, der
sonore Ton irgend einer Tempelglocke, die die zwölfte Stunde
verkündet. Alsogleich ist der Bann gebrochen, wie das
Wunder eines Traumes, das ein Laut zerstört: Der Gesang
verstummt, die Runde löst sich unter sanften Lachkaskaden
und unter Plaudern und leise vokalisierten Rufen von
Blumennamen, die Mädchennamen sind, und Abschiedsgrüßen:
Sayönara! Und Tänzer und Zuschauer wenden sich unter
lautem Geklapper der Getas gleichzeitig heimwärts. Und
indem ich mich von der Menge treiben lasse, ganz benommen,
wie jemand, der plötzlich aus dem Schlafe aufgeschreckt
worden ist, überkommt mich eine undankbare Regung.
Dieses liebe Völkchen mit dem hellen Silberlachen, das
jetzt neben mir dahertrippelt, auf den lärmenden kleinen
Getas und seine Schritte beschleunigt, um noch rasch einen
Blick auf den Fremden zu werfen — alle die Elfen waren
noch eben eine Vision archaischer Anmut, Illusionen der
Nekromantik, köstliche Phantome — und ich fühle einen
leisen Groll gegen sie, daß sie sich jetzt in solch schlichte
Dorfmädchen verwandeln.
Nachdem ich mich zur Ruhe gelegt, sinne ich dem Grunde
der seltsamen Empfindungen nach, die dieser schlichte,
einfache, ländliche Chor in mir ausgelöst hat.
Unmöglich, mir die Melodie mit ihren phantastischen
Intervallen und der Chromataik der Töne zurückzurufen
— ebensowohl könnte man versuchen, das Vogelgezwitscher
dem Gedächtnis einzuprägen — aber der unsagbare Zauber
umschwebt mich noch.
Abendländische Melodien erwecken in uns Empfindungen,
die wir definieren können, Empfindungen, uns so vertraut
wie die Muttersprache, auf uns vererbt von all den vorher
gehenden Generationen. Aber wie die Empfindungen erklären,
die uns ein primitiver Sang erweckt, der so grundverschieden
von aller abendländischen Melodik ist, ja, selbst unmöglich
in den Tönen niederzuschreiben, die die Ideogramme unserer
musikalischen Sprache sind? —
Und die Empfindung selbst, was ist sie? Ich weiß es nicht
— aber ich fühle, sie ist etwas unendlich Älteres als ich
selbst — etwas, was nicht bloß einem Ort und einer Zeit
angehört, sondern in der Freude oder dem Leid alles Seins
unter der Sonne des Universums mitvibriert. Und ich frage
mich, ob das Geheimnis nicht vielleicht in irgend einer
unbewußten, spontanen Harmonie jener Melodie mit dem
ältesten Sang der Natur liege, in einer unbewußten Ver
wandtschaft mit der Musik der Einsamkeiten — mit allem
Trillern und Zirpen des Sommerlebens, das zu der großen
süßen Stimme der Erde verschmilzt.
GOTT DER ALLMÄCHTIGE SCHUF ZUERST
EINEN GARTEN. UND, FÜRWAHR, DER
GARTEN IST DIE REINSTE DER MENSCH
LICHEN FREUDEN. BACON.
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