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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

ob nicht bei dem allerleisesten Ton alles wie ein Spuk für 
immer verschwunden sein würde und nichts übrig bliebe 
als der modernde Hof, der verödete Tempel und die zer^ 
brochene Statue des Jizü mit jenem geheimnisvollen Lächeln, 
wie ich es auf dem Antlitz der Tänzerinnen sehe. 
Unter dem gleitenden Mond inmitten der Runde fühle ich 
mich wie in einem Zauberbann. Und fürwahr, dies ist Be 
zauberung — ich bin berückt, berückt von dem geisterhaften 
Winken der Hände, von dem rhythmischen Gleiten der Füße 
und vor allem von dem Wallen und Wogen der wunder 
samen Ärmel, schemenhaft, lautlos, sammetweich wie der 
Flügelschlag großer tropischer Fledermäuse. Nein — nichts, 
was ich je geträumt, ließe sich damit vergleichen — und 
bei dem Gedanken an die uralte Hakaba hinter mir, mit 
den geheimnisvollen Willkommsgrüßen ihrer Laternen und 
den geisterhaften Vorstellungen, die sich an diese Stunde 
und diesen Ort knüpfen, überrieselt mich ein namenloser 
Schauer, unter Gespenstern zu weilen. Doch nein! Diese an 
mutigen, schweigenden, winkenden Gestalten gehören nicht 
zu den schattenhaften Gästen, für deren Kommen die weißen 
Feuer entzündet wurden — ein Sang voll klarer, bebender 
Süßigkeit wie ein Vogelruf löst sich von Mädchenlippen 
und fünfzig weiche Stimmen fallen ein: 
„Soröta soroimashita odoriko ga soröta, 
Sorokite, kita hare yukata!“ 
„Dem Auge gleichförmig (wie Reisähren im Felde), alle gleich 
in sommerliche Festgewänder gekleidet, hat sich die Tänzer 
schar versammelt." 
Und wieder nur das Zirpen der Grillen, das Shu-shu der 
Sandalen, das sanfte Händeklatschen und der wogende, 
schwebende, feierliche Tanz fährt fort, magnetisch langsam, 
mit einer seltsamen Anmut, die gerade in ihrer Naivität so 
alt scheint wie der Hügelkranz, der sie einschließt. 
Jene, die dort den jahrhundertlangen Schlaf schlafen unter 
den grünen Steinen, wo die weißen Laternen sind, und ihre 
Väter und ihrer Väter Väter und die unbekannten Gene 
rationen vor ihnen, begraben auf Friedhöfen, die seit Tausenden 
von Jahren vergessen sind, auch sie haben sicherlich auf 
ein Schauspiel wie dieses geblickt. Ja, dieser von den jungen 
Füßen aufgewirbelte Staub war menschliches Leben und 
sang und lächelte ebenso unter demselben Mond „mit 
wallenden Schritten und winkenden Händen“. 
Plötzlich wird das Schweigen durch den Gesang tiefer Männer 
stimmen unterbrochen. Zwei Riesen haben sich der Runde 
angeschlossen und führen sie nun an. Zwei prächtige Bauern 
burschen aus den Bergen, fast nackt und um Haupteslänge 
die ganze Versammlung überragend. Ihre Kimonos sind wie 
Gürtel um den Leib gerollt und lassen ihre Bronzeglieder 
der Luft und der Sonne ausgesetzt. Sie sind sonst mit nichts 
bekleidet als mit ungeheuren Strohhüten und weißen Tabis, 
die eigens für dieses Fest angefertigt werden. Nie vorher 
habe ich unter diesem Volke solche Muskeln gesehen, aber 
ihre lächelnden, bartlosen Gesichter sind hübsch und gut 
mütig wie die japanischer Knaben. Sie scheinen Brüder zu 
sein, so gleichen sie einander in ihrem Körperbau, ihren 
Bewegungen und dem Klang ihrer Stimmen, als sie den 
Gesang intonieren: 
„No demo yama demo ko wa umiokeyo, 
Sen ryö kura yori ko ga takara.“ 
„Ob im Felde geboren oder auf Bergeshöhen, weit kostbarer 
als ein Schatz von tausend Ryos ist ein Kind.“ 
Und Jizü, der Freund der Kindergeister, lächelt durch das 
Schweigen. 
Diese Seelen sind eins mit der Naturseele, ungekünstelt und 
rührend ist ihr Denken, wie die Anbetung jener Kishibojin, 
zu der die Frauen beten. Und als die Strophe verklungen 
ist, antworten die süßen Frauenstimmen: 
„Omou otoko ni sowasanu oya wa, 
Oya de gozaranu ko no kataki.“ 
„Die Eltern, die sich der Vereinigung ihrer Tochter mit dem 
Geliebten widersetzen, sind nicht des Kindes Eltern, sondern 
seine Feinde.“ 
Und Lied folgt auf Lied und der Kreis wird immer größer 
und die Stunden fliegen dahin, unbemerkt und ungefühlt, 
während der Mond über die blauen Hänge der Nacht herab- , 
schwebt. 
Plötzlich rollt ein tiefes, leises Dröhnen über den Hof, der 
sonore Ton irgend einer Tempelglocke, die die zwölfte Stunde 
verkündet. Alsogleich ist der Bann gebrochen, wie das 
Wunder eines Traumes, das ein Laut zerstört: Der Gesang 
verstummt, die Runde löst sich unter sanften Lachkaskaden 
und unter Plaudern und leise vokalisierten Rufen von 
Blumennamen, die Mädchennamen sind, und Abschiedsgrüßen: 
Sayönara! Und Tänzer und Zuschauer wenden sich unter 
lautem Geklapper der Getas gleichzeitig heimwärts. Und 
indem ich mich von der Menge treiben lasse, ganz benommen, 
wie jemand, der plötzlich aus dem Schlafe aufgeschreckt 
worden ist, überkommt mich eine undankbare Regung. 
Dieses liebe Völkchen mit dem hellen Silberlachen, das 
jetzt neben mir dahertrippelt, auf den lärmenden kleinen 
Getas und seine Schritte beschleunigt, um noch rasch einen 
Blick auf den Fremden zu werfen — alle die Elfen waren 
noch eben eine Vision archaischer Anmut, Illusionen der 
Nekromantik, köstliche Phantome — und ich fühle einen 
leisen Groll gegen sie, daß sie sich jetzt in solch schlichte 
Dorfmädchen verwandeln. 
Nachdem ich mich zur Ruhe gelegt, sinne ich dem Grunde 
der seltsamen Empfindungen nach, die dieser schlichte, 
einfache, ländliche Chor in mir ausgelöst hat. 
Unmöglich, mir die Melodie mit ihren phantastischen 
Intervallen und der Chromataik der Töne zurückzurufen 
— ebensowohl könnte man versuchen, das Vogelgezwitscher 
dem Gedächtnis einzuprägen — aber der unsagbare Zauber 
umschwebt mich noch. 
Abendländische Melodien erwecken in uns Empfindungen, 
die wir definieren können, Empfindungen, uns so vertraut 
wie die Muttersprache, auf uns vererbt von all den vorher 
gehenden Generationen. Aber wie die Empfindungen erklären, 
die uns ein primitiver Sang erweckt, der so grundverschieden 
von aller abendländischen Melodik ist, ja, selbst unmöglich 
in den Tönen niederzuschreiben, die die Ideogramme unserer 
musikalischen Sprache sind? — 
Und die Empfindung selbst, was ist sie? Ich weiß es nicht 
— aber ich fühle, sie ist etwas unendlich Älteres als ich 
selbst — etwas, was nicht bloß einem Ort und einer Zeit 
angehört, sondern in der Freude oder dem Leid alles Seins 
unter der Sonne des Universums mitvibriert. Und ich frage 
mich, ob das Geheimnis nicht vielleicht in irgend einer 
unbewußten, spontanen Harmonie jener Melodie mit dem 
ältesten Sang der Natur liege, in einer unbewußten Ver 
wandtschaft mit der Musik der Einsamkeiten — mit allem 
Trillern und Zirpen des Sommerlebens, das zu der großen 
süßen Stimme der Erde verschmilzt. 
GOTT DER ALLMÄCHTIGE SCHUF ZUERST 
EINEN GARTEN. UND, FÜRWAHR, DER 
GARTEN IST DIE REINSTE DER MENSCH 
LICHEN FREUDEN. BACON. 
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