DIE KRITIK.
VON OSKAR WILDE.
Erklären heißt einschränken.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Der kritische Geist ist es, der neue Formen schafft. Das
Schaffen neigt dazu, sich zu wiederholen. Jede neue Schule,
die sich erhebt, verdanken wir dem kritischen Geiste und
ebenso jede neue Gußform, die der Kunst sich darbietet...
Jede neuauftauchende Schule flucht der Kritik. Aber ihr
Dasein verdankt sie dem kritischen Geiste. Bloße schaffende
Kraft neuert nicht, sondern wiederholt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Ich möchte die Kritik ein Schaffen aus Geschaffenem nennen.
Denn wie die großen Künstler von Homer und Äschylos
bis zu Shakespeare und Keats nicht dem Leben selbst ihre
Stoffe entnahmen, sondern dem Mythus, den Sagen oder
alten Erzählungen, so behandelt der Kritiker Stoffe, die
andere für ihn gleichsam schon gereinigt, denen sie schon
Form gegeben haben. Ja, ich gehe noch weiter: Die höchste
Kritik gibt die reinste Form persönlichen Eindrucks und
ist also in ihrer Art schöpferischer als das Schaffen selbst.
Denn sie kann an keinem äußeren Maßstab gemessen
werden. Sie ist ihre eigene Ursache und ist, wie ein Grieche
sagen würde, in sich und für sich ein Ziel und Ende. Sie
ist durch keine Fesseln der Wahrscheinlichkeit gebunden.
Keine gemeine Berechnung der Möglichkeit, jene feigen
Rücksichten im langweiligen Kreislauf des wirklichen Lebens,
gehen sie an. Man kann von der Dichtung an die Welt der,
Tatsachen appellieren, über der Seele aber gibt es keine
Instanzen... Denn die höchste Kritik ist nichts anderes als
ein Erzählen von seiner eigenen Seele.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Für den Kritiker ist das Kunstwerk nur der Ausgangspunkt
für ein neues, eigenes Werk, das nicht notwendig irgend
eine sichtbare Ähnlichkeit mit dem besprochenen Werke
zu haben braucht. Das wichtigste Merkmal der schönen
Form ist, daß man hineinlegen kann, was man zu sehen
wünscht. Die Schönheit aber, die der Schöpfung ihren alh
gemeingültigen ästhetischen Wert verleiht, macht wieder
den Kritiker zum Schaffenden und raunt ihm tausend Dinge
zu, an die der Künstler nicht dachte, der die Statue meißelte,
das Bild malte, die Gemme schnitt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Die Kritik erfordert viel mehr Kultur als das Schaffen...
Einen dreibändigen Roman kann jeder schreiben. Dazu
braucht man weder etwas vom Leben noch von der Literatur
zu wissen. Für den Kritiker liegt die größte Schwierigkeit
darin, überhaupt irgend einen Maßstab aufrecht zu erhalten.
Wo kein Stil ist, ist natürlich jeder Maßstab unmöglich.
Die armen Leute sind nur noch die Berichterstatter der
literarischen Polizei. Sie zeigen die Taten der Gewohnheits^
Verbrecher in der Kunst an.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Ein Kritiker ist ein Mensch, der es versteht, seinen Eindruck
von schönen Dingen in einen anderen Stil oder in ein
neues Ausdrucksmittel zu übertragen.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Ein Kritiker ist ein Mensch, der uns ein Kunstwerk in
einer neuen Form zeigt. Wer aber ein neues Verfahren
anwendet, ist ein Kritiker und ein Schaffender zugleich.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Der Kritiker zeigt uns das Kunstwerk immer in einer
neuen Verbindung mit unserer Zeit. Er erinnert uns immer
daran, daß große Kunstwerke etwas Lebendiges sind — ja,
daß sie das einzig Lebendige sind.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
In der ästhetischen Kritik kommt alles auf den Standpunkt an
(Fingerzeige: Die Wahrheit der Masken.)
Die höchste Form wie die niedrigste Form der Kritik ist
eine Art Selbstbiographie.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Sicher ist das erste Erfordernis einer ästhetischen Kritik,
seinen Eindrücken Gestalt zu geben.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Ein Kritiker kann im gewöhnlichen Sinne des Wortes gar
nicht gerecht sein. Nur über Dinge, die einen nichts angehen
kann man unparteiisch urteilen. Das ist auch der Grund,
warum ein unparteiisches Urteil niemals Wert hat. Wer
beide Seiten einer Frage sieht, sieht gar nichts... Nur ein
Auktionator kann unparteiisch und gleichmäßig alle Kunst*
schulen bewundern.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Gerade wie die Kunst eines Landes nur durch die Berührung
mit der Kunst fremder Völker das eigene abgeschlossene
Leben gewinnt, das wir ein nationales nennen, so kann
umgekehrt der Kritiker die Persönlichkeit und das Werk
anderer nur dann auslegen und deuten, wenn er seine eigene
Persönlichkeit so stark wie möglich betont. Je stärker seine
Persönlichkeit in die Auslegung eindringt, umsomehr
Wirklichkeit erhält die Auslegung, umsomehr befriedigt
und überzeugt sie, um so wahrer ist sie.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Der feinfühlige Kritiker wird jene aufdringlichen Kunstarten
ablehnen, die nur EINE Botschaft zu bringen haben und
nachher stumm und unfruchtbar sind. Er sucht nach einer
Kunst, die sein Träumen und seine Stimmung befruchtet
und durch ihre unirdische Schönheit jede Deutung als wahr,
aber keine Deutung als endgültig erscheinen läßt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Das erste Erfordernis für den Kritiker ist: Temperament —
ein Temperament, das für die Schönheit und die mannig
faltigen Eindrücke, die uns die Schönheit gibt, auf das
feinste empfänglich ist.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Kunst wendet sich zunächst weder an den Intellekt
noch an das Gefühl, sondern einzig an das künstlerische
Temperament. Und dieser „Geschmack“ wird unbewußt
geleitet und erzogen durch die häufige Berührung mit den
besten Werken, bis er endlich eine Art richtigen Urteils wird.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Kein Kunstwerk darf nach Gesetzen beurteilt werden, die
nicht aus ihm selbst abgeleitet sind: Die Frage ist nur, ob
es in sich geschlossen ist oder nicht.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
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