Man sagt den Kritikern bisweilen nach, sie läsen die Bücher
gar nicht durch, die sie besprechen sollten. Das tun sie
auch nicht, sollten es wenigstens nicht tun. Täten sie es,
sie würden ihr ganzes Leben zu Menschenhassern. Es ist
auch gar nicht nötig. Um Lage und Wert eines neuen
Weines zu bestimmen, braucht man kein Faß leer zu trinken.
Es sollte doch leicht genug sein, nach einer halben Stunde
zu entscheiden, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. Wer
Formensinn hat, hat an zehn Minuten genug.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Unsere Kritiker scheinen kaum zu wissen, daß der Ursprung
der Dichtung und Malerei der gleiche ist und daß jeder wahre
Fortschritt in der Ergründung der einen auch eine ent-
sprechende Vervollkommnung in der Erkenntnis der andern
mit sich bringt.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Der Satz, der Künstler sei der beste Kunstrichter, ist so
falsch, daß man sagen kann: Ein großer Künstler kann nie
über Werke anderer urteilen und kaum sogar über seine
eigenen. Jene Stärke der Anschauung, die einen Menschen
zum Künstler macht, beschränkt schon durch ihre Stärke
seine Fähigkeit zu feinerer Abschätzung . . . Gerade, weil
jemand etwas nicht machen kann, kann er es beurteilen.
Denn das Schaffen engt den Gesichtskreis ein, während die
Betrachtung ihn erweitert.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Was überhaupt bei uns modern ist, verdanken wir den
Griechen. Was bei uns veraltet ist, verdanken wir dem
Mittelalter. Die Griechen haben uns das ganze System der
Kunstkritik gegeben. Wie fein ihr kritischer Sinn war,
können wir schon aus der Tatsache schließen, daß sie ihre
Kritik hauptsächlich an der Sprache übten. Denn im Ver--
gleich mit der Sprache ist das Material des Malers oder
Bildhauers beschränkt und gering. Die Sprache hat nicht
nur Töne, so lieblich wie die der Leier oder Laute — Farben,
so reich und lebendig wie irgend welche, die die Leinwand
eines Venezianers oder Spaniers zieren — plastische Form,
so stark und sicher, wie sie nur je sich in Bronze oder
Stein offenbarte. Ihr gehören auch Gedanken und Leidem
schäften und Geistigkeit und diese gehören ihr allein. Hätten
die Griechen keine Kritik geschaffen außer ihrer Kritik der
Sprache, sie blieben doch die größten Kunstrichter der Welt.
Wer die Gesetze der höchsten Kunst kennt, kennt die Grund
sätze aller Künste.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Das XIX. Jahrhundert wurde ein Wendepunkt der Geschichte,
und zwar durch zwei Männer, durch Darwin und Renan.
Der eine war der Kritiker des Buches der Natur, der andere
der Kritiker der Bücher Gottes. Wer das nicht einsieht, ver
kennt die Bedeutung einer der wichtigsten Epochen in der
Entwicklung der Welt. Das Schaffen bleibt immer hinter
der Zeit zurück. Die Kritik führt uns.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Verpflichtung, dem Chaos Form zu geben, läßt nicht
nach, wenn die Welt fortschreitet. Nie war die Kritik nötiger
als jetzt. Nur durch sie kann die Welt sich bewußt werden,
wohin sie gekommen ist.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Zukunft gehört der Kritik.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
BLUMENSTÖCKE VON
E. R. WEISS. HAGEN i.W
Mit Bildern auf Seite 192 und 193.
B ei früherer Gelegenheit wurde die Geschichte des Blumen
stückes erzählt. Die Betrachtung ist bei dem Alt-Wiener
oder Biedermeierblumenstück stehen geblieben, dessen
Vorzüge in einer realistischen Kleinmalerei und in einer
genauen Wiedergabe der morphologischen Details bestand.
Der Kunstfreund und der Pflanzenkenner mußten in gleicher
Weise befriedigt werden. Das Stück sollte nicht nur interessant,
sondern auch belehrend wirken. Die Blumenmaler arbeiteten
wie sorgfältige Illustratoren. Den modernen Pflanzenbüchern
fehlt die Mitwirkung dieser emsigen, peinlich sauberen
farbigen Pflanzenstudien. Der moderne Maler sucht in ihnen
andere künstlerische Wirkungen. Als Träger der Farbe in
früher nie gesehener Schönheit und Heftigkeit behandelt
der Impressionismus die Blumen. Ihre farbige Erscheinung
ist das Wichtige. Die großen Impressionisten Manet, Cézanne,
Monet haben diese Gattung gepflegt. Sie wurde bereits charak
terisiert. „Ihre Blumenstücke und Stilleben sind nicht mit
dem Verstand, mit dem Wissen oder der Erinnerung zu er
greifen, sondern nur mit den Augen zu genießen, bestimmt,
eine wunderbare, leuchtende Fülle von lebendigen Farben
zu vereinigen. Die kümmerliche und naturgetreue Nach
bildung der Blumen war nicht Sache der Franzosen; die
getreueste Nachbildung kann schließlich niemals die echte
Blume ersetzen, niemals ihren Duft, die Vergänglichkeit
ihres Lebens, die zu ihrer Schönheit gehört, wiedergeben,
ln einen solchen unnützen und aussichtslosen Wettbewerb
mit der Wirklichkeit mochten sich diese geistreichen Künstler
nicht einlassen. Aber was sie von den Blumen und Früchten
in der Malerei wiedergeben konnten, war das Geheimnis der
farbigen Wirkung.“
Andere Maler sind auf diesen Wegen gefolgt und haben
das ganze farbige Paradies erobert. Viele Studien von Blumen
und Stilleben sind als Zeichen der wiedererwachten Farben-
und Blumenfreude erstanden. Karl Schuch, dem Kreise
Leibeis und Trübners angehörig, nach dem Vorbild Cézanne
schaffend, hat diese Gattung fast ausschließlich gepflegt. Ein
jungmoderner Künstler, E. R. Weiss, H. i. W., hat einen
neuen Stil des Blumenstückes entwickelt. Er vereinigt die
Farbenanschauung des Impressionismus mit dem Kompo
sitionsgedanken des biedermeierlichen Blumenstückes. Sein
Blumenstück wirkt dekorativ. Mit hellen und kühnen Farben
verlangt es nach Räumen mit weißen Wänden, nach freund
lichen Wohnräumen, die licht und luftig sind. Dort werden
sie eine überraschende Wirkung ausüben, die in den Aus
stellungen, wo die Bilder gelegentlich zu sehen waren, kaum
geahnt werden konnte. Lichte Räume mit weißen Wänden
brauchen starke Farben, die wirken müssen, wie ein Stück
frischer, bunter Bauernmalerei. Die Blumenstücke von Weiss
geben diesen Effekt. Ein bäuerliches Element klingt auch
bei ihnen durch, wenngleich durch die kultivierte und poetisch
empfindende Persönlichkeit des Künstlers reflektiert. Was
in der ursprünglichen bäuerlichen Darstellung naiv erscheinen
würde, ist hier ein wenig sentimental. Die Gefühlsseligkeit
ist ja eine Tugend des Biedermeier redivivus. Viel Schönes
ist dabei zu empfinden. Die Sträuße stecken in schönen
Bauernkeramiken, in köstlichen alten Geburtstagsgläsern,
Dinge, die das lyrische Herz mit Wehmut ergreifen, aber
nebst diesen Bekenntnissen einer schönen Seele ist das
Geheimnis der modernen Farbenanschauung da, als das
Wesentliche.
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