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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Man sagt den Kritikern bisweilen nach, sie läsen die Bücher 
gar nicht durch, die sie besprechen sollten. Das tun sie 
auch nicht, sollten es wenigstens nicht tun. Täten sie es, 
sie würden ihr ganzes Leben zu Menschenhassern. Es ist 
auch gar nicht nötig. Um Lage und Wert eines neuen 
Weines zu bestimmen, braucht man kein Faß leer zu trinken. 
Es sollte doch leicht genug sein, nach einer halben Stunde 
zu entscheiden, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. Wer 
Formensinn hat, hat an zehn Minuten genug. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.) 
Unsere Kritiker scheinen kaum zu wissen, daß der Ursprung 
der Dichtung und Malerei der gleiche ist und daß jeder wahre 
Fortschritt in der Ergründung der einen auch eine ent- 
sprechende Vervollkommnung in der Erkenntnis der andern 
mit sich bringt. 
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.) 
Der Satz, der Künstler sei der beste Kunstrichter, ist so 
falsch, daß man sagen kann: Ein großer Künstler kann nie 
über Werke anderer urteilen und kaum sogar über seine 
eigenen. Jene Stärke der Anschauung, die einen Menschen 
zum Künstler macht, beschränkt schon durch ihre Stärke 
seine Fähigkeit zu feinerer Abschätzung . . . Gerade, weil 
jemand etwas nicht machen kann, kann er es beurteilen. 
Denn das Schaffen engt den Gesichtskreis ein, während die 
Betrachtung ihn erweitert. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.) 
Was überhaupt bei uns modern ist, verdanken wir den 
Griechen. Was bei uns veraltet ist, verdanken wir dem 
Mittelalter. Die Griechen haben uns das ganze System der 
Kunstkritik gegeben. Wie fein ihr kritischer Sinn war, 
können wir schon aus der Tatsache schließen, daß sie ihre 
Kritik hauptsächlich an der Sprache übten. Denn im Ver-- 
gleich mit der Sprache ist das Material des Malers oder 
Bildhauers beschränkt und gering. Die Sprache hat nicht 
nur Töne, so lieblich wie die der Leier oder Laute — Farben, 
so reich und lebendig wie irgend welche, die die Leinwand 
eines Venezianers oder Spaniers zieren — plastische Form, 
so stark und sicher, wie sie nur je sich in Bronze oder 
Stein offenbarte. Ihr gehören auch Gedanken und Leidem 
schäften und Geistigkeit und diese gehören ihr allein. Hätten 
die Griechen keine Kritik geschaffen außer ihrer Kritik der 
Sprache, sie blieben doch die größten Kunstrichter der Welt. 
Wer die Gesetze der höchsten Kunst kennt, kennt die Grund 
sätze aller Künste. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.) 
Das XIX. Jahrhundert wurde ein Wendepunkt der Geschichte, 
und zwar durch zwei Männer, durch Darwin und Renan. 
Der eine war der Kritiker des Buches der Natur, der andere 
der Kritiker der Bücher Gottes. Wer das nicht einsieht, ver 
kennt die Bedeutung einer der wichtigsten Epochen in der 
Entwicklung der Welt. Das Schaffen bleibt immer hinter 
der Zeit zurück. Die Kritik führt uns. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.) 
Die Verpflichtung, dem Chaos Form zu geben, läßt nicht 
nach, wenn die Welt fortschreitet. Nie war die Kritik nötiger 
als jetzt. Nur durch sie kann die Welt sich bewußt werden, 
wohin sie gekommen ist. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.) 
Die Zukunft gehört der Kritik. 
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.) 
BLUMENSTÖCKE VON 
E. R. WEISS. HAGEN i.W 
Mit Bildern auf Seite 192 und 193. 
B ei früherer Gelegenheit wurde die Geschichte des Blumen 
stückes erzählt. Die Betrachtung ist bei dem Alt-Wiener 
oder Biedermeierblumenstück stehen geblieben, dessen 
Vorzüge in einer realistischen Kleinmalerei und in einer 
genauen Wiedergabe der morphologischen Details bestand. 
Der Kunstfreund und der Pflanzenkenner mußten in gleicher 
Weise befriedigt werden. Das Stück sollte nicht nur interessant, 
sondern auch belehrend wirken. Die Blumenmaler arbeiteten 
wie sorgfältige Illustratoren. Den modernen Pflanzenbüchern 
fehlt die Mitwirkung dieser emsigen, peinlich sauberen 
farbigen Pflanzenstudien. Der moderne Maler sucht in ihnen 
andere künstlerische Wirkungen. Als Träger der Farbe in 
früher nie gesehener Schönheit und Heftigkeit behandelt 
der Impressionismus die Blumen. Ihre farbige Erscheinung 
ist das Wichtige. Die großen Impressionisten Manet, Cézanne, 
Monet haben diese Gattung gepflegt. Sie wurde bereits charak 
terisiert. „Ihre Blumenstücke und Stilleben sind nicht mit 
dem Verstand, mit dem Wissen oder der Erinnerung zu er 
greifen, sondern nur mit den Augen zu genießen, bestimmt, 
eine wunderbare, leuchtende Fülle von lebendigen Farben 
zu vereinigen. Die kümmerliche und naturgetreue Nach 
bildung der Blumen war nicht Sache der Franzosen; die 
getreueste Nachbildung kann schließlich niemals die echte 
Blume ersetzen, niemals ihren Duft, die Vergänglichkeit 
ihres Lebens, die zu ihrer Schönheit gehört, wiedergeben, 
ln einen solchen unnützen und aussichtslosen Wettbewerb 
mit der Wirklichkeit mochten sich diese geistreichen Künstler 
nicht einlassen. Aber was sie von den Blumen und Früchten 
in der Malerei wiedergeben konnten, war das Geheimnis der 
farbigen Wirkung.“ 
Andere Maler sind auf diesen Wegen gefolgt und haben 
das ganze farbige Paradies erobert. Viele Studien von Blumen 
und Stilleben sind als Zeichen der wiedererwachten Farben- 
und Blumenfreude erstanden. Karl Schuch, dem Kreise 
Leibeis und Trübners angehörig, nach dem Vorbild Cézanne 
schaffend, hat diese Gattung fast ausschließlich gepflegt. Ein 
jungmoderner Künstler, E. R. Weiss, H. i. W., hat einen 
neuen Stil des Blumenstückes entwickelt. Er vereinigt die 
Farbenanschauung des Impressionismus mit dem Kompo 
sitionsgedanken des biedermeierlichen Blumenstückes. Sein 
Blumenstück wirkt dekorativ. Mit hellen und kühnen Farben 
verlangt es nach Räumen mit weißen Wänden, nach freund 
lichen Wohnräumen, die licht und luftig sind. Dort werden 
sie eine überraschende Wirkung ausüben, die in den Aus 
stellungen, wo die Bilder gelegentlich zu sehen waren, kaum 
geahnt werden konnte. Lichte Räume mit weißen Wänden 
brauchen starke Farben, die wirken müssen, wie ein Stück 
frischer, bunter Bauernmalerei. Die Blumenstücke von Weiss 
geben diesen Effekt. Ein bäuerliches Element klingt auch 
bei ihnen durch, wenngleich durch die kultivierte und poetisch 
empfindende Persönlichkeit des Künstlers reflektiert. Was 
in der ursprünglichen bäuerlichen Darstellung naiv erscheinen 
würde, ist hier ein wenig sentimental. Die Gefühlsseligkeit 
ist ja eine Tugend des Biedermeier redivivus. Viel Schönes 
ist dabei zu empfinden. Die Sträuße stecken in schönen 
Bauernkeramiken, in köstlichen alten Geburtstagsgläsern, 
Dinge, die das lyrische Herz mit Wehmut ergreifen, aber 
nebst diesen Bekenntnissen einer schönen Seele ist das 
Geheimnis der modernen Farbenanschauung da, als das 
Wesentliche. 
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