SONDER- WIEN UND DIE KÜNSTLERISCHEN
Doppelnummer: GEMEINDEAUFGABEN I.
ÜBERBLICK.
Nur ein Bruchteil des grossen Themas konnte in diesem Hefte
erörtert werden; andere Hefte über diesen Gegenstand werden
folgen. Die mannigfaltigen Erscheinungen eines grossen Stadt
lebens erfordern eine gesonderte Darstellung; ich beginne mit
jenen Stadtteilen, wo noch ein Werden ist und manches Übel
abgewendet werden kann. Es ist DAS STADTGEBIET AM
FU SSE DES KAHLEN GEBIRGES, wo Ländliches und Städtisches
einander begegnen; über Landschaften und Ortschaften orientieren
die Bilder und im Zusammenhang damit der Text 5 Wiener
Vorstadtkultur, Der Wald- und Wiesengürtel, Der Nordosten
Wiens, „Wenn du vom Kahlenberg. . . . “; weitere moderne
und historische Interessen betreffen s Tote Architektur, Altwiener
Haustore, Läden und Trachten; Literatur und Wiener Musik.
WIENER VORSTADTKULTUR.
D ie Bezirke, die um den inneren Stadtkern gelagert
sind, bilden eine amorphe Masse. Die Zentrali
sation der Gemeindeverwaltung hat sie entmündigt,
die Spekulation hat ihre bauliche Entwicklung über
nommen und ihnen den Stempel einer gleichmässigen
Schablone aufgedrückt. Öde und Unwohnlichkeit ist
ihr Merkmal. Die „schöne Fassade“ ist für den Zu
stand der Dinge ebenso bezeichnend wie der Mangel
des Bades fast bei allen Wohnungen, die grösseren
nicht ausgeschlossen. Wer durch die nüchternen, stau
bigen, trotz der auffallenden Breite und Helligkeit tristen
Strassenzüge, die meistens peinlich geradlinig verlaufen,
fährt, ahnt nicht, dass sich an ihrer Stelle einstmals
entzückende Ortschaften befanden, von denen hie und
da ein altes, bei aller Verwahrlosung immer noch an
sprechendes Haus, ein plastisches Wahrzeichen, ein
Restchen Garten, ein alter Friedhof legendenhafte
Kunde gibt Der Regulierungsplan hat die ursprüng
lichen Strassen- und Platzverhältnisse nicht berück
sichtigt und die überlieferte lebensvolle Anlage
durch die Abstraktion des Generalregulierungsplanes
brutalisiert. In einzelnen Punkten wird durch Auf
stellung von Denkmälern und kleinen gärtnerischen
Anlagen ein Verschönerungsversuch unternommen,
aber sie bleiben immer äusserlicher Zierrat; die Schön
heit muss an den Dingen sein, sie kann nicht an
geheftet werden, wie man ein Schmuckstück anheftet
Je weiter man zur Peripherie kommt, desto stärker
tritt die ursprüngliche bodenständige Kultur zutage.
Obschon eingemeindet und mit neuen Bezirksnamen
versehen, haben sich in den äusseren, von Gärten,
Weinbergen, Wald und Wiesen umschlossenen länd
lichen Vororten mit dem alten architektonischen Be
stand die lieblichen Ortsnamen erhalten: Dornbach,
Neuwaldegg, Gersthof, Pötzleinsdorf, Neustift am
Walde, Sievering, Grinzing, Heiligenstadt. Man kann
heute noch innerhalb der Stadtgrenzen Wiens aufs
Land gehen. Die genannten Orte sind noch immer
beliebte Sommerfrischen. Die Namen anderer, von der
Stadterweiterung aufgesogenen und spurlos verschwun
denen Orte: Rudolfsheim, Fünfhaus, Ottakring, Wein
haus, sind noch im Munde des Volkes wie verklun
gene Sagen. Die genannten, noch erhaltenen Ort
schaften am Fusse des Kahlenberges haben zum grossen
Teil ihren Kulturcharakter bewahrt, obgleich die
Schabionisierung von der Stadt aus auch hier riesige
Fortschritte macht. Trotzdem ist noch ein Rest eigenen
Gemeindelebens und in der Bevölkerung ein starkes
Heimatgefühl vorhanden. Trotz der Einverleibung
sind diese Orte noch immer ein Individuum, die an
deren Bezirke eine Nummer. Dort gilt es, Bestehendes
zu erhalten und vor der Schabionisierung zu retten,
hier wird alles von neuem zu machen sein. Wir
können vorläufig nichts tun, als die geistige und
künstlerische Einsicht der jungen Generation wappnen,
um sie zu befähigen, einmal die schweren Fehler der
letzten dreissig bis vierzig Jahre gut zu machen. □
Diese noch ursprünglich gebliebenen Vororte inner
halb des Wiener Gemeindefriedens sind kraft ihrer
eigenen überlieferten Kultur noch immer zu einer
gewissen Selbständigkeit befähigt und im wesentlichen
Vorteil den anderen gewöhnlichen Stadtbezirken gegen
über. Diese anderen gewöhnlichen Stadtbezirke, an
Ausdehnung und Bevölkerungszahl grösser als eine
mittelgrosse Provinzstadt, wie etwa Salzburg, gleichen,
für sich allein betrachtet, einem Lebewesen niedrigster
Ordnung, das zwar einen grossen Magen, aber nicht
die edleren Organe zu einem höher entwickelten Da
sein besitzt, um die Kulturaufgaben innerhalb eines
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