MAK

Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

der so grossen Gemeindebezirkes selbständig zu lösen. 
Wer in London gelebt hat, weiss, dass jeder Bezirk ein 
hochentwickeltes Gemeindeleben aufweist und selb 
ständig an der eigenen Kultur arbeitet. Jeder Bezirk 
besitzt ein eigenes Theater, oft deren mehrere, ein 
grosses Klubhaus, grosse Spielplätze, grosse Park 
anlagen, Schwimmanstalten, vortrefflich bestellte grosse 
Bibliotheken, eigene Museen, eigene höhere Bildungs 
anstalten, kurz, ein eigenes geistiges Leben, das selbstver 
ständlich baulich zum Ausdruck kommt. Jeder Bezirk 
ist gleichsam eine selbständige Stadt und arbeitet 
künstlerisch für sich. Bei uns arbeitet nur die innere 
Stadt, der alte Stadtkern mit dem Ring und seinem 
nächsten Anhang, für die Kultur, aber in einer Weise, 
die heute naturgemäss internationalen Anstrich hat. 
Die Bezirke hängen geistig von ihr vollständig ab. 
Die Pflege der lokalen städtischen Kultur, die ihre 
Aufgabe wäre, ist vollends vernachlässigt, und darum 
bietet das Ganze ein so farbloses Bild. Einige Vor 
stadttheater lassen Wunsch und Möglichkeit erkennen, 
die Bezirke wieder zu eigenen Kulturzentren zu ent 
wickeln. Es ist nur auf Grundlage einer verwaltungs 
politischen Autonomie möglich. □ 
Die sogenannten Rathäuser in den Bezirken sind 
blosse Zweigstellen der Verwaltung. Der Gemeinderat 
und Stadtrat unter dem Vorsitz des Bürgermeisters 
und seiner Beisitzer ist zentralisiert und entscheidet 
für alle Bezirke. Diese kommunale Verfassungsform 
ist historisch begründet und überliefert aus der Zeit, 
da die Stadt noch nicht die enorme Ausdehnung 
hatte wie heute und die gemeinsamen Aufgaben, die 
die ganze Stadt gleichmässig betreffen, zu lösen waren, 
vor allem die Beleuchtungs-, Verkehrs- und Gesund 
heitsfragen. Die Schattenseiten dieser Verfassung treten 
heute schon stark hervor in den Mängeln des General 
regulierungsplanes, in der Schabionisierung des Stadt 
bildes und in der Erlahmung des individualisierten 
Gemeindelebens innerhalb der einzelnen Gemeinde 
bezirke. □ 
Die Zukunft liegt offen. □ 
Die Entwicklung wird von der Dezentralisation der 
Gemeindeverwaltung den Ausgang nehmen. Die 
gemeinsamen Angelegenheiten, die das Stadtganze be 
treffen, werden unter dem Vorsitz eines Oberbürger 
meisters beschlossen werden; in allen Fragen, welche 
die individuelle Entwicklung der Bezirke betreffen, 
werden diese autonom handeln müssen. Wenn die 
Rathäuser in den Bezirken wieder ihren ursprüng 
lichen Sinn bekommen haben und den natürlichen 
Schwerpunkt ihres Stadtteiles bilden, dann wird das 
Gemeindeleben in den Bezirken wie eine Hochflut 
schwellen. Der amorphe Koloss der Riesenstadt, zer 
legt in einen Kranz von Städten, der Absolutismus 
der Zentralverwaltung, ersetzt durch ein Bündnis von 
selbständigen und individualisierten Stadtregierungen, 
die Millionenstadt als Städtebund, das ist die Kristalli 
sation der amorphen Masse. Die Bezirke, auf sich 
selbst gestellt, müssen notgedrungen einen Wettkampf 
untereinander bestehen, und das Interesse der Bürger 
schaft wird naturgemäss darüber wachen müssen, 
die höchste Wohnlichkeit, die besten Gesundheits 
verhältnisse, das grösste Mass von Schönheit und 
Kultur auf lokalem Boden zu entwickeln. □ 
Wenn die ganze Stadt schön und angenehm sein soll, 
dann muss diese Schönheit und Annehmlichkeit in 
allen Teilen gleichmässig entwickelt sein. Das kleinste 
Stück einer Stadt soll immer noch soviel des Guten 
enthalten, um auf die Herrlichkeit des ganzen Gebildes 
schliessen zu lassen, wie ein Fragment einer antiken 
Plastik unfehlbar die Vollendung des übrigen Teiles 
offenbart. Mindestens aber soll der räumlich über 
wiegende Teil einer Stadt, im Hinblick auf Kunst 
und Kultur, nicht einer toten Schlacke gleichen, wie 
es heute leider in Schön-Wien der Fall ist Zu diesem 
Ende ist in den neuen, in den letzten Jahrzehnten 
ausgebauten Stadtbezirken nahezu alles von neuem 
zu tun. In bezug auf Wohnhaus und Stadtplan 
müssen die aufgeklärten künstlerischen, sozialen und 
hygienischen Grundsätze zur Geltung kommen, die 
vor allem ein Haus nicht wegen der Fassade, son 
dern wegen der Wohnzwecke für Kulturmenschen 
errichten. Die Trennung der Geschäfts- und Ver- 
kehrsstrassen, die von den eigentlichen Wohnstrassen 
durchweg mit Rasen und grünen Pflanzungen zu 
versehen sind, bilden eine grundlegende Forderung 
für den modernen Städtebauer. Der einzelne Stadt 
bezirk als Kulturzentrum wird aus seinem eigenen 
geistigen und künstlerischen Leben die Institutionen 
entwickeln, die den lokalen Gedanken zum Ausdruck 
bringen, nebst Rathaus das Theater, Museum, Biblio 
thek, Lese- und Redehalle, Konzerthaus, Park, Sport 
plätze, Denkmäler, schöne Brunnen, Ausstellungen, 
Gewerbehallen und sonstige Wohlfahrtseinrichtungen, 
die im Einzelnen und im Gesamten den Inhalt einer 
organischen und eben darin künstlerischen architek 
tonischen Strassen- und Platzanlage bilden. □ 
Wir werden einen solchen Umschwung nicht erleben. 
Es ist die Arbeit dreier folgender Generationen, und 
es ist die Frage, ob ein solches Ziel jemals annähernd 
verwirklicht werden wird. Aber in allem, auch dem 
Geringsten, das gestaltet wird, soll das Bild einer ganz 
harmonischen Durchbildung den Leitstern bilden, wenn 
das Wenige gut geraten soll. Immer soll es zum 
Ganzen gehen. □ 
In den ländlichen, noch erhaltenen Vororten liegen die 
Umstände günstiger. Dort hätte man nur auf dem 
Bestehenden weiterzubauen. Die Grundlinien sind dort 
von Haus aus gegeben. Man müsste sich vor dem 
Grundfehler des voreiligen Zerstörens und Schabloni- 
sierens hüten, was leider nicht zu erwarten ist. Wenn 
die Fähigkeit, Werte zu erkennen und zu unter 
scheiden, heute herrschend wäre, in den schlichten 
und schier unscheinbaren Gebilden dieser Ortschaften 
würde die Architektur alles finden, was ihr heute 
fehlt: den Anschluss an die Heimat und an das 
Leben des Volkes. p 
206
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.