MAK

Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

DER NORDOSTEN WIENS, 
E ine Kulturaufgabe, in der die modernen wirtschaftlichen, 
sozialen und künstlerischen Interessen verschmelzen, bietet 
das Neuland im Nordosten Wiens, wo sich ein rascher 
Umwandlungsprozess vom ländlichen zum industriellen Charakter 
vollzieht, der alle ursprünglichen Verhältnisse über den Haufen 
wirft. Werden die heute herrschenden Lebensmächte dieser 
harrenden Aufgabe gewachsen sein? Es ist die Frage, ob diese 
neuen Grosstadtteile und ihre weitere Umgebung nach dem 
Worte Ruskins verschimmelte Schwären, die sich in Fetzen und 
Flecken über das Land verbreiten, oder ob sie ein heiliges 
Gartenland bilden sollen, mit dem gesunde und schön gebaute 
Städte umgürtet sind. Der Anblick einzelner, dort mitten im 
freien Feld aufragender Zinskasernen mit elenden Woh 
nungen lässt eine schlimme Zukunft befürchten, anderseits 
lassen der grossenteils unbebaute Zustand des Landes, die 
billigen Bodenpreise und der Rest ländlicher Tradition die 
Möglichkeit einer glücklichen Gestaltung offen. Man lehnt diese 
Möglichkeit gern mit dem Hinweis auf schlechte Windrichtungen, 
die die Dünste und Miasmen der Grosstadt zuführen, ab. 
Müssen nicht Tausende von Menschen dort ihr Leben verbringen 
und erwächst da nicht die vermehrte Pflicht, dem neuen Indu 
striebezirk den Charakter einer Gartenstadt zu geben, um das 
Dasein von so vielen auf eine gesunde Grundlage zu stellen? 
Wenn das geschieht, dann ist auch von den schlechten Winden 
nichts zu fürchten, deren Schädlichkeit stark übertrieben wird. 
Hier also erschliesst sich ein ungeheures und dankbares Gebiet 
für eine weitsichtige Gemeindepolitik, die natürlich von höheren 
Gesichtspunkten als den eines Spekulationsbauwesens geleitet 
sein muss. Sehen wir denn nicht, von England ausgehend, eine 
praktische Sozialpolitik in der sogenannten Gartenbaubewegung 
in Holland, Belgien und Deutschland inzwischen Entwicklungs 
fähiges bilden? □ 
Industriebezirk und Gartenstadt sind keineswegs entgegengesetzte 
Begriffe, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat; sie 
stellen vielmehr eine glückliche Einigung eines modernen Wirt 
schafts- und Lebensprinzipes dar. Ja, es ist sogar die Garten 
stadtbewegung aus dem Industriewesen hervorgegangen, wie die 
Anlagen der englischen Musterarbeiterdörfer Port Sunlight und 
Bournville zeigen, aus denen die ganze Bewegung abgeleitet 
wird. Diese Arbeiterkolonien sind die ersten modernen Grün 
dungen, in der die wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen 
Bestrebungen Hand in Hand gehen. Es sind ausserordentlich 
geglückte Operationen, die dem Wohnungselend mit all seinen 
hygienischen, wirtschaftlichen und ethischen Misständen ein 
Ende bereiten. Bournville Z. B., eine Gründung des Kakao 
fabrikanten Cadbury, ist ein blühender, gesunder Ort, der heute 
über 500 Cottages besitzt, die in einer ebenso sachlichen als 
künstlerischen und auf der altheimatlichen Tradition beruhenden 
Anlage die einzig richtige Wohnweise mit dem Ein-, höchstens 
Zweifamilienhause gewährt und alle erforderlichen Räume unter 
starker Betonung der Nutzräume, als Küche, Schlafzimmer, 
Badezimmer mit Kalt- und Warm Wasserleitung, vorgesehen hat, 
wozu noch für jedes Haus so viel Gartengrund zu rechnen ist, 
als eine Familie selbst bebauen kann. Diese Häuser, die in 
künstlerischem Betracht infolge der Hinweglassung allen un 
nützen Zierates als Muster entzückender Einfachheit gelten. 
sind dadurch ausgezeichnet, dass sie, trotzdem die Konstruktion 
des Hauses und der Bestandteile in der modernen maschinellen 
Massenherstellung nach einem oder zwei Modellen vorgenommen 
ist, überall der Schablone ausweichen, weil es der Architekt 
verstanden hat, durch eine in jedem Hause je nach der Lage 
und den besonderen Bedürfnissen individuelle und daher 
malerische, abwechslungsreiche Anwendung der im Grunde 
gleichen Mittel die Einförmigkeit zu brechen, indem er dem 
einen Haus eine Vorhalle oder ein Vordach, dem anderen ein 
Erkerfenster etc., und zwar immer da, wo es das andere nicht 
hat, und namentlich, indem er die geraden Gassenlinien zu 
vermeiden sucht und durch gewisse Unregelmässigkeiten, wofern 
sie künstlerisch oder natürlich sind, anmutig wechselnde Strassen- 
bilder erzielt. Stellt man sich vor, dass der Ort Parkanlagen, 
Spielplätze, Bibliotheksgebäude, Vortragssäle, Lernstätten, ein 
Versorgungsheim und ein Waisenhaus besitzt, so hat man einen 
genauen Begriff von diesem Kulturzentrum. Trotz der Ver 
zinsung des Anlagekapitals und der billigen Hausmieten für die 
eigenen und fremden Arbeiter wirft die Anlage, die der Gemeinde 
Zum Geschenk gemacht wurde, Überschüsse ab, die zunächst 
zum weiteren Ausbau verwendet werden. Ganz ähnlich ist die 
Anlage von Port Sunlight. Auf diesen Erfahrungen fussend, 
hat eine Ebenezer Howard die sogenannte Gartenstadtbewegung 
hervorgerufen, die den Zweck hat, Niederlassungen zu gründen 
und grosse Industrien zu bewegen, ihren Sitz auf das Land zu 
verlegen, aus denen die Gartenstädte hervorgehen sollen. Das 
Territorium der ersten dieser Gründungen ist festgelegt 35 eng 
lische Meilen nordöstlich von London zwischen Hitchin und 
Baidock. Die Geldmittel wurden durch Aktien aufgebracht und 
ein genauer Plan ausgearbeitet. Dem Lageplan zufolge, der in 
Übereinstimmung mit den von der Natur gegebenen Bedingungen 
und sorgfältiger Schonung des Vorhandenen, vor allem der 
bereits bestehenden Bäume und Baumgruppen, entworfen worden 
ist, soll bei Gruppierung der Häuser auf Mannigfaltigkeit und 
Anmut Bedacht genommen werden, ebenso wie auf natürliche 
Rücksichten in bezug auf Sonnenseite, Windrichtung und be 
rechenbare andere Naturerscheinungen. Dass die Hausbauten 
die gute heimische, will sagen die englische Landhausadition 
aufnehmen und fortentwickeln und sich auf diese Art dem 
Landschaftsbilde harmonisch einfügen werden, ist als selbstver 
ständlich zu betrachten. Die Anlage soll einen mässigen Umfang 
haben und sich um ein Zentrum gruppieren, das einen Park 
bildet, darin Schulen, Museen, Theater und andere öffentliche 
Institutionen Platz finden. Bei späterer Entwicklung und Be 
völkerungszunahme sollen neue Nachbarzentren mit einigen 
Stadtgebilden entstehen, durch Wald und Feld genügend weit 
auseinandergehalten, und auf diese Art ein weitmaschiges Gefüge 
von Gartenstädten bilden, durch die modernen Verkehrsmittel 
trefflich miteinander verbunden. Die Fabriken, Wohnhäuser und 
Markthallen, von dichtem Grün umstellt und dem Auge entzogen, 
sollen so gelegen sein, dass der Wind den Lärm, Staub und 
Rauch von den Wohnbezirken hinwegführt. Dass auch das 
einer ästhetischen Durchbildung fähig ist, bedarf kaum der 
Erwähnung. ^ 
Die englische Bewegung hat in Holland, und zwar in den Delfter 
Fabriken van Maarkens eine, wenn auch anders organisierte 
Verwirklichung gefunden, und in Belgien und Deutschland hat 
sie eine sehr emsige Agitation für die Kolonisation im Sinne 
2J8
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.