DER NORDOSTEN WIENS,
E ine Kulturaufgabe, in der die modernen wirtschaftlichen,
sozialen und künstlerischen Interessen verschmelzen, bietet
das Neuland im Nordosten Wiens, wo sich ein rascher
Umwandlungsprozess vom ländlichen zum industriellen Charakter
vollzieht, der alle ursprünglichen Verhältnisse über den Haufen
wirft. Werden die heute herrschenden Lebensmächte dieser
harrenden Aufgabe gewachsen sein? Es ist die Frage, ob diese
neuen Grosstadtteile und ihre weitere Umgebung nach dem
Worte Ruskins verschimmelte Schwären, die sich in Fetzen und
Flecken über das Land verbreiten, oder ob sie ein heiliges
Gartenland bilden sollen, mit dem gesunde und schön gebaute
Städte umgürtet sind. Der Anblick einzelner, dort mitten im
freien Feld aufragender Zinskasernen mit elenden Woh
nungen lässt eine schlimme Zukunft befürchten, anderseits
lassen der grossenteils unbebaute Zustand des Landes, die
billigen Bodenpreise und der Rest ländlicher Tradition die
Möglichkeit einer glücklichen Gestaltung offen. Man lehnt diese
Möglichkeit gern mit dem Hinweis auf schlechte Windrichtungen,
die die Dünste und Miasmen der Grosstadt zuführen, ab.
Müssen nicht Tausende von Menschen dort ihr Leben verbringen
und erwächst da nicht die vermehrte Pflicht, dem neuen Indu
striebezirk den Charakter einer Gartenstadt zu geben, um das
Dasein von so vielen auf eine gesunde Grundlage zu stellen?
Wenn das geschieht, dann ist auch von den schlechten Winden
nichts zu fürchten, deren Schädlichkeit stark übertrieben wird.
Hier also erschliesst sich ein ungeheures und dankbares Gebiet
für eine weitsichtige Gemeindepolitik, die natürlich von höheren
Gesichtspunkten als den eines Spekulationsbauwesens geleitet
sein muss. Sehen wir denn nicht, von England ausgehend, eine
praktische Sozialpolitik in der sogenannten Gartenbaubewegung
in Holland, Belgien und Deutschland inzwischen Entwicklungs
fähiges bilden? □
Industriebezirk und Gartenstadt sind keineswegs entgegengesetzte
Begriffe, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat; sie
stellen vielmehr eine glückliche Einigung eines modernen Wirt
schafts- und Lebensprinzipes dar. Ja, es ist sogar die Garten
stadtbewegung aus dem Industriewesen hervorgegangen, wie die
Anlagen der englischen Musterarbeiterdörfer Port Sunlight und
Bournville zeigen, aus denen die ganze Bewegung abgeleitet
wird. Diese Arbeiterkolonien sind die ersten modernen Grün
dungen, in der die wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen
Bestrebungen Hand in Hand gehen. Es sind ausserordentlich
geglückte Operationen, die dem Wohnungselend mit all seinen
hygienischen, wirtschaftlichen und ethischen Misständen ein
Ende bereiten. Bournville Z. B., eine Gründung des Kakao
fabrikanten Cadbury, ist ein blühender, gesunder Ort, der heute
über 500 Cottages besitzt, die in einer ebenso sachlichen als
künstlerischen und auf der altheimatlichen Tradition beruhenden
Anlage die einzig richtige Wohnweise mit dem Ein-, höchstens
Zweifamilienhause gewährt und alle erforderlichen Räume unter
starker Betonung der Nutzräume, als Küche, Schlafzimmer,
Badezimmer mit Kalt- und Warm Wasserleitung, vorgesehen hat,
wozu noch für jedes Haus so viel Gartengrund zu rechnen ist,
als eine Familie selbst bebauen kann. Diese Häuser, die in
künstlerischem Betracht infolge der Hinweglassung allen un
nützen Zierates als Muster entzückender Einfachheit gelten.
sind dadurch ausgezeichnet, dass sie, trotzdem die Konstruktion
des Hauses und der Bestandteile in der modernen maschinellen
Massenherstellung nach einem oder zwei Modellen vorgenommen
ist, überall der Schablone ausweichen, weil es der Architekt
verstanden hat, durch eine in jedem Hause je nach der Lage
und den besonderen Bedürfnissen individuelle und daher
malerische, abwechslungsreiche Anwendung der im Grunde
gleichen Mittel die Einförmigkeit zu brechen, indem er dem
einen Haus eine Vorhalle oder ein Vordach, dem anderen ein
Erkerfenster etc., und zwar immer da, wo es das andere nicht
hat, und namentlich, indem er die geraden Gassenlinien zu
vermeiden sucht und durch gewisse Unregelmässigkeiten, wofern
sie künstlerisch oder natürlich sind, anmutig wechselnde Strassen-
bilder erzielt. Stellt man sich vor, dass der Ort Parkanlagen,
Spielplätze, Bibliotheksgebäude, Vortragssäle, Lernstätten, ein
Versorgungsheim und ein Waisenhaus besitzt, so hat man einen
genauen Begriff von diesem Kulturzentrum. Trotz der Ver
zinsung des Anlagekapitals und der billigen Hausmieten für die
eigenen und fremden Arbeiter wirft die Anlage, die der Gemeinde
Zum Geschenk gemacht wurde, Überschüsse ab, die zunächst
zum weiteren Ausbau verwendet werden. Ganz ähnlich ist die
Anlage von Port Sunlight. Auf diesen Erfahrungen fussend,
hat eine Ebenezer Howard die sogenannte Gartenstadtbewegung
hervorgerufen, die den Zweck hat, Niederlassungen zu gründen
und grosse Industrien zu bewegen, ihren Sitz auf das Land zu
verlegen, aus denen die Gartenstädte hervorgehen sollen. Das
Territorium der ersten dieser Gründungen ist festgelegt 35 eng
lische Meilen nordöstlich von London zwischen Hitchin und
Baidock. Die Geldmittel wurden durch Aktien aufgebracht und
ein genauer Plan ausgearbeitet. Dem Lageplan zufolge, der in
Übereinstimmung mit den von der Natur gegebenen Bedingungen
und sorgfältiger Schonung des Vorhandenen, vor allem der
bereits bestehenden Bäume und Baumgruppen, entworfen worden
ist, soll bei Gruppierung der Häuser auf Mannigfaltigkeit und
Anmut Bedacht genommen werden, ebenso wie auf natürliche
Rücksichten in bezug auf Sonnenseite, Windrichtung und be
rechenbare andere Naturerscheinungen. Dass die Hausbauten
die gute heimische, will sagen die englische Landhausadition
aufnehmen und fortentwickeln und sich auf diese Art dem
Landschaftsbilde harmonisch einfügen werden, ist als selbstver
ständlich zu betrachten. Die Anlage soll einen mässigen Umfang
haben und sich um ein Zentrum gruppieren, das einen Park
bildet, darin Schulen, Museen, Theater und andere öffentliche
Institutionen Platz finden. Bei späterer Entwicklung und Be
völkerungszunahme sollen neue Nachbarzentren mit einigen
Stadtgebilden entstehen, durch Wald und Feld genügend weit
auseinandergehalten, und auf diese Art ein weitmaschiges Gefüge
von Gartenstädten bilden, durch die modernen Verkehrsmittel
trefflich miteinander verbunden. Die Fabriken, Wohnhäuser und
Markthallen, von dichtem Grün umstellt und dem Auge entzogen,
sollen so gelegen sein, dass der Wind den Lärm, Staub und
Rauch von den Wohnbezirken hinwegführt. Dass auch das
einer ästhetischen Durchbildung fähig ist, bedarf kaum der
Erwähnung. ^
Die englische Bewegung hat in Holland, und zwar in den Delfter
Fabriken van Maarkens eine, wenn auch anders organisierte
Verwirklichung gefunden, und in Belgien und Deutschland hat
sie eine sehr emsige Agitation für die Kolonisation im Sinne
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