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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift für Architektur, angewandte Kunst und alle modernen Kulturaufgaben, 4. Jahrgang 1908

Großväter arbeiteten, daß fie ficb der Namen diefer Kunden, 
ihres Husfehens, der Ereigniffe, die ihr Leben erfchüttert oder 
beglückt haben, erinnern. Was wiffen die heute von ihrer 
Kundfchaft, die die Maffe ift, von der Maffe, die ihre Kundfchaft 
ift; der hiefigen Maffe, der der Nachbarländer, der der fünf 
Erdteile; der Maffe, die ficb verliert, fobald man fie gewonnen 
bat; die wieder unbekannt wird, fobald man fie kennt; der 
Maffe, deren Zahlungsfähigkeit unlieber ift, die aber doch von 
allen derart begehrt wird, daß die Nationen ficb um ihretwillen 
mit Zolltarifen und auch mit Kanonen bekriegen? Der Induftrielle 
empfindet diefe Erinnerungen eher mit Bitterkeit als mit Rührung. 
Der Glaube ift noch zu feft in ihm eingewurzelt, daß das einzige 
Heil die Billigkeit ift, und daß er nur abfebeuliebe, fchlecbt aus= 
geführte Sachen, deren er ficb felbft febämt, exportieren kann. 
Ja, ich möchte feftftellen, daß die Induftrie keinen Augenblick 
daran denkt, ficb felbft wegen diefes traurigen Standes der 
Dinge anzuklagen, und daß derjenige unter uns, der verfueben 
würde, fie zur Vernunft zu bringen und fie davon zu über= 
zeugen, daß das Heil auf einer ganz andern Seite als bei der 
Billigkeit und dem Export liegt, Fiusfkbt hätte, von ihr als 
Träumer behandelt zu werden. □ 
Unter den Künftlern aber gibt es Träumer diefes Schlages. 
Sie haben die Hoffnung auf die Rückkehr der Schönheit noch 
nicht aufgegeben, fie träumen von ihr, aber fie träumen wirklich 
nur, wenn fie an fie denken. Sonft find fie wach, aufmerkfam 
und gründlich; die Realitäten begeiftern fie, weil jede von ihnen 
ihre Hoffnungen bebt oder fenkt, gleichwie die Welle es mit 
dem Afte macht, den der Sturm ins Meer geworfen bat. □ 
Der Gedanke der Einführung eines neuen Stils ift befreiend. 
Er wird uns von dem Druck der unaufhörlichen, raftlofen Auf» 
einanderfolge der Moden befreien, durch die das Publikum das 
Gefühl für guten Gefcbmack und für Schönheit verloren bat. 
Sie haben den Induftriellen erhebliche Modellkoften und oft 
großes Rifiko verurfacht. Hätten die Modelle, um deren Aus» 
nutjung es fich für die Induftriellen handelte, den Stempel eines 
anerkannten Stils getragen, fo wäre es möglich gewefen, den 
Koftenaufwand zu vermeiden, oder aber man hätte ihn der 
Qualität des Materials und der Ausführung der Gegenftände 
zugute kommen laffen können. In der induftriellen Welt haben 
diefe Koften und diefes Rifiko eine Atmofphäre der Unruhe 
und Unficherbeit bervorgerufen und tiefe Verftimmung zwifeben 
den Gliedern ein und derfelben Korporation. Die Induftriellen, 
die über genügende Geldmittel verfügen und die fähige Künftler 
befebäftigen oder ficb an bekannte Künftler wenden können, 
zittern bei dem Gedanken, daß ihre Modelle kopiert werden 
könnten, bevor fie fie als Neuigkeiten auf den Markt gebracht 
haben, — oder aber, daß man fie nadbabme, noch ehe die Modell» 
koften durch den Verkauf gedeckt find. Sie blicken verdrießlich 
auf die kleinen Induftriellen, die auf der Jagd find nach allem, 
was ihnen vor Augen kommt, und die Kataloge ihrer mäcbtigften 
Konkurrenten erbarmungslos plündern. □ 
Auf fcbamlofe Art befteblen die Induftriellen einander, und 
die Künftler, die im guten Glauben find, ihre Arbeit einem 
Einzigen gewidmet zu haben, fehen fie, gegen ihren Willen, von 
Allen ausgenutjt. □ 
Ihre Schöpfungen, augenblicklich von andern in Befcblag ge» 
nommen, werden auf die denkbar niederträcbtigfte Weife ver» 
dorben, - und die unmittelbare Folge davon ift, daß der Original» 
entwurf durch die Unmenge wertlofer Nachahmungen erftickt wird, 
bevor er feinen beilfamen Einfluß auf den Gefcbmack des Pu» 
blikums ausüben und der Sache dienen konnte, die wohlmeinende 
Künftler und Induftrielle fördern wollten. □ 
(Der neue Stil. Näheres über Buch und Autor im näcbften Heft.) 
NEUE RUSSISCHE ARCHITEKTUR 
(MIT BILDERN AUF SEITE 5-11) 
E s ift neulich febon gefagt worden, daß die ruffifche Abteilung 
der Clou in der heurigen Arcbitektur»Kongreß»Ausftellung, 
Wien 1908, war. Diefes Heft bringt einige Illuftrationen 
von den Werken der modernen Architektengruppe, die fich in 
Petersburg in dem »Jahrbuch des ruffifchen Kunft» und Arcbi» 
tekten=Vereins«, deffen Redaktions»Komitee in der kaiferlichen 
Akademie der Künfte in St. Petersburg fungiert, einen propa» 
gandiftifchen Mittelpunkt gefebaffen bat. □ 
Diefe neue ruffifche Architektur fteckt voll Archaismen, voll 
Erinnerungen an die byzantinifcb»romanifche Heiligenkunft, voll 
von nationalen volkstümlichen Überlieferungen, voll Mittelalter. 
Modern an diefer Erfcbeinung ift die freie, unakademifebe, groß» 
zügige Auffaffung, ein Subjektivismus, der das Überlieferte zu 
neuen Erlebniffen geftaltet. Die ältere Generation bat diefelben 
Mittel, diefelben Vorbilder, diefelben nationalen Grundlagen in 
ftarrer, akademifcb doktrinärer Form verarbeitet; fie wirken neben 
den Werken der Neuen kleinlich, ängftlicb, febematifeh und ganz 
unerfreulich. Aber die moderne dekorative Behandlung in Zeich» 
nung und technifcher Durchführung hat den Dingen einen neuen 
Reiz gegeben und eine Selbftändigkeit, die fie felbft neben den 
echten alten Originalen erträglich erfcheinen läßt. In Rußland 
ift diefe Verjüngung des »nationalen Stils« künftlerifcb berechtigt, 
namentlich in der kirchlichen Architektur, weil das Volk religiös 
noch ganz im mittelalterlichen Bann fteckt. Es ift daher nicht 
erlaubt, in bezug auf Deutfcbland eine Parallele zu ziehen. Hier 
liegen die Probleme ganz anders.. .. Auch in Rußland fchwelgen 
die zivilifierten Lebensfchicbten ebenfo wie in Wefteuropa in der 
Wiederholung von Empire und Biedermeier, und zunäcbft ift 
keine Hoffnung, daß diefer Verirrung ein Ziel gefetjt werde.. .. 
L. 
EIN KUNSTGEWERBLICHES MEISTERSTÜCK 
(MIT BILD AUF SEITE 12) 
S o verdient der Salonfchrank aus Leder mit Handftempel- 
vergoldung, in der Wiener Kunftfchau ausgeftellt, genannt 
zu werden. Verdient es vor allem in technifcher hand 
werklicher Beziehung. Es wurde ausgefübrt von der Wiener 
Werkftätte. Das Befondere daran ift die vorzügliche Arbeit, 
namentlich aber die Handvergoldung, die eine Prachtleiftung 
des Buchbinders und Handvergolders WILLNER ift, die befte 
handwerkliche Kraft auf diefem Gebiete, die mir je untergekommen 
ift. Der Entwurf, wie überhaupt der Marmorraum, darin der 
Schrank ftebt, ftammt von dem jungen Wiener Architekten OTTO 
PRUTSCHER. Die Ornamentation ift reich, eine ftarke, aber 
immerhin gefcbmackvolle und arebitektonifeb difziplinierte Häu 
fung geometrifcher Mufter von jener Art, die in der Wiener Werk 
ftätte gepflegt wird. □ 
Das Glasfenfter ift von R. GEYLING entworfen und in tecb» 
nifcb ftiliftifcher Hinficht febr bemerkenswert. Ein Glasmofaik, 
durchfichtig und farbig, dekorativ und ftiliftifcb außerordentlich 
gut gezeichnet. Die effektvolle Farbigkeit, die in diefem Raum 
ebenfo wie die grauglänzenden Marmorwände die zarte Wirkung 
des Lederfcbränkchens beeinträchtigen, gebt in der Reproduktion 
ganz verloren. Meinen Glückwunfch jenem, der diefes Wunder» 
fcbränkchen, diefes technifche Kunftwerk erften Ranges, befitjen 
wird. LUX 
276
	        
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