Nr. 16 Internationale Sammler-Zeitung Seite 123
In dieser Umgebung wirkt der Reichtum des
hannoverschen Provinzial-Museums an mittelalterlicher
Kunst auch für den, der das Museum schon zu kennen
glaubte, direkt erstaunlich. Ist schon die Zeit des
romanischen Stiles durch ein Paar höchst charakter
istische große Holz-Kruzifixe, einige Einzelfiguren und
mehrere steinerne Taufbecken recht gut vertreten,
so ist der gotische Raum in seiner Fülle von ganz
hervorragenden Werken vollkommen überwältigend.
Hier haben Kirchen und Klöster Niedersachsens das
beste hergeben müssen, uns Spätgeborene so wenigstens
einen schwachen Begriff übermittelnd von dem, was
hier auf niedersächsischem Boden geschaffen worden
ist, und wenn man auch vielleicht bedauern mag, daß
die Kunstwerke den Platz, für den sie ausdrücklich
bestimmt waren, verlassen mußten, und man ohne
weiteres zugeben muß, daß auch die beste Museums
aufstellung doch immer nur ein Notbehelf sein wird,
so muß doch anerkannt werden, daß die jetzige An
ordnung den Gegenständen und ihrer Bedeutung für
die Kunst Niedersachsens nicht nur, sondern für das
gesamte Gebiet der mittelalterlichen Kunst überhaupt
ganz anders gerecht wird, als das früher der Fall war.
Das Hauptwerk ist sicherlich die berühmte „Goldene
Tafel“ aus der Michaelskirche in Lüneburg, eine der
bedeutendsten Offenbarungen der niedersächsischen
Kunst, die keinen Vergleich mit den gleichzeitigen großen
Altarwerken zu scheuen braucht. Der Meister ist noch
unbekannt; ob der Einfluß des in letzter Zeit so viel
genannten Konrad v. S o e s t wirklich so bedeutend ist,
muß die Forschung, die bislang die norddeutsche
Kunst etwas stiefmütterlich behandelt hat (erst in letzter
Zeit ist hierin ein Wandel eingetreten), noch festzustellen
haben. Meines Erachtens scheinen viel stärkere Be
rührungspunkte mit der Hamburger Malerschule, speziell
Meister B e r t r a m vorzuliegen, die schon durch die
Nähe Hamburgs ihre Erklärung finden würden. Gegen
den großen Lüneburger Altar müssen die übrigen,
so charakteristische Werke sich auch darunter befinden,
wie z. B. die Altäre aus der ehern. Barfüßerkirche zu
Göttingen, der Marktkirche von Hannover usw. zurück
stehen. — Ein typischer Künster des Niedersachsen
stammes ist Hans Raphon (jedenfalls viel norddeutscher
seiner Empfindung und seiner Gestaltung nach als
z. B. Tiiman Riemenschneider, der ja auch mit
Recht, trotzdem er aus Osterode a. H. gebürtig ist,
der süddeutschen, speziell der fränkischen Schule zu
gerechnet wird; von diesem Künstler sind auch ein
Paar vorzügliche Einzelfiguren vorhanden, deren weiche
Anmut und zarte Empfindsamkeit sich hier bestens
darstellt.) Hans R a p h o n, aus Einbeck stammend, der
hauptsächlich für Süd-Hannover gearbeitet hat (außer
für seine Vaterstadt für Göttingen, Duderstadt usw.)
gehört nicht zu den ganz großen Künstlern der Renais
sance, dazu war er nicht selbständig genug (gerade
seine starke Abhängigkeit von Dürer, Cranach usw.
spricht sich hier in den Werken des Provinzial-Museums
greifbar aus), aber ihn zeichnet auf der anderen Seite
ein kräftiges, etwas derbes Temperament aus, das ihn
recht als typischen Repräsentanten unseres Nieder
sachsenvolkes erscheinen läßt. — In diesen Sälen tritt
das Kunstgewerbe etwas zurück; nur ganz überraschend
stellt sich aber der Reichtum des Museums an mittel
alterlichen Stickereien und Webereien dar.
Den Schluß der bis jetzt eröffneten Abteilung gibt
der Renaissance-Saal, dessen glänzender Mittelpunkt
das Holbeinsche Porträt Eduards VI., des Sohnes
Heinrichs VIII. von England, eins der schönsten Porträt
Holbeins überhaupt, entzückend in seiner Naivität und
malerischen Delikatesse. Daneben müssen ein paar
Bilder von Cranach, Schaffner usw. genügen,
um die Vielseitigkeit dieser Epoche wenigstens einiger-
massen zu veranschaulichen.
Damit ist die Neu-Ordnung des Provinzial-Museums,
die mit der Schaffung einer modernen Galerie begann,
vorläufig zu einem gewissen Abschluß gelangt. Es
sollen noch die Säle folgen, die die niederländischen
und italienischen Bilder enthalten. Es würde damit eine
einheitliche, lückenlose Darstellung für das gesamte
Kunstgebiet von der Frühzeit des romanischen Stiles
bis auf die Ausläufer unserer Moderne erreicht sein.
Nach Jahren vollständiger Stagnation auf dem Gebiete
des Museumswesens wird dann Hannover ein Museum
aufweisen können, das in seiner Eigenart einen be
sonderen Typus darstellen wird.
2)/e Stadt der c ßi6fiopßiten.
Von Bernhard Szana (Wien).
Kein Land ist so reich wie Frankreich an jenen
Gesellschaften und Akademien, die als sogenannte
Bibliophilen-Vereinigungen sich die Herausgabe kurioser
und erotischer Schriften zur Aufgabe machten. Diese
Bücher erschienen natürlich nur in äußerst beschränkter
Anzahl, in höchstens hundert, nicht selten aber auch
bloß in einigen wenigen Exemplaren, die dann im Laufe
der Zeit zu den größten Raritäten geworden sind und
von Bibliotheken und Sammlern gehütet werden als
die kostbarsten Schätze. Einige der Akademien und
Gesellschaften existierten allerdings nur in der Phantasie,
und ihre Namen lebten nur als eingebildete Verlags
titel auf Büchern. Dies ist beispielsweise der Fall mit
der „Academie des Dames“; diese ist nichts anderes
als der Titel der ersten französischen Uebersetzung der
ursprünglich in lateinischer Sprache erschienenen be
rühmten erotischen Gespräche der Alosia Sigaea des
M e u r s i u s, recte C h o r i e r. Das Original wurde
zuerst um 1660 in Grenoble veröffentlicht.
Wirklich existiert hat in Frankreich dagegen die
„Academie de ces dames et de ces messieurs“ durch
mehrere Jahrzehnte, von 1739 bis 1776. Sie war eine
Schöpfung des bekannten Dichters Graf C a y I u s, der
sich mit einigen anderen Schriftstellern zu dieser lau
nigen Gesellschaft vereinigte. Bei ihren Zusammen
künften ging es immer heiter her. Man amüsierte sich
damit, die ernsten Akademien durch schwankhafte Werke
zu persiflieren. Die hauptsächlichsten Genossen des
Grafen Caylus waren: Comte de Tressan, Duclos,
V a d 6, Salle, Comtesse de Verrue, die mit ihrem
epikuräischen Namen „la dame de Volupte“ hieß —
lauter Persönlichkeiten, deren Namen in der galanten
französischen Literatur des 18. Jahrhunderts Berühmtheit
genossen. Aufschluß über die Regeln dieser Gesellschaft
geben die zwei, zusammen genau 500 Seiten starken,
1776 unter der Flagge „Amsterdam et Paris, chez Se-
gaud“ erschienenen Bände der „MSmoires historiques
et galans de l’Academie de ces dames et de ces mes
sieurs, ouvrage redige par Antoine-Martin Vad6“. Der
bürgerliche Name des Vade war Dan tu; er fungierte
als Sekretär der Akademie. Nach den Angaben dieser
Memoiren bildeten etwa zwanzig Schöngeister beiderlei
Geschlechtes den geschlossenen Kreis. Die Mitglieder
versammelten sich zu ihrer Unterhaltung gewöhnlich