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Internationale Sammler-Zeitung _____ Nr. 16
Sonntag nachmittag. Das erste ihrer Gesetze befahl, daß
jedes Mitglied mit einem literarischen Werke zum Amü
sement beitrage. Die besten dieser Gelegenheitsdichtungen
wurden gedruckt. So entstand das berühmte Buch der
galanten Literatur „Les Etrennes de la Saint-Jean, Troyes
chez la veuve Puhot, 1739." Das Werk wurde später
mehrfach neugedruckt; eine von diesen Auflagen wurde
mit Illustrationen von Boucher geschmückt. Beiträge
zu den „Etrennes" hatten außer dem Grafen Caylus
und der Gräfin V e r r u e auch Graf Maurepas und
Montesquieu geliefert. Die Gesellschaft der Aka
demie dieser Herren und dieser Damen veröffentlichte
1745 zwei weitere Sammlungen: „Recueil de ces dames,
Aux ddpens de la Compagnie, Bruxelles" (recte Paris)
und „Recueil de ces Messieurs." An der letzteren Samm
lung beteiligten sich außer den schon genannten Dich
tern auch S a 11 ö und C r 6 b i 11 o n fils.
Eine zweite berühmte französische Bibliophilen- und
Dichtervereinigung der galanten Literaturepoche des
18. Jahrhunderts war die „Soci£t£ dramatique de M. de
la Popeliniere". Den Namen Popeliniere trug ein
Generalpächter des Königs Louis XV., ein Krösus der
Zeit, ebenso berühmt durch seinen Luxus wie durch
sein eheliches Ungemach; seine Gattin betrog ihn mit
dem Marschall Richelieu. Um sich für sein häusliches
Mißgeschick zu entschädigen, soll er die berühmten und
berüchtigten „Tableaux des moeurs du temps" verfaßt
haben. Man behauptet jedoch, daß C r & b i 11 o n fils
der Autor war und das Buch nur mit dem Namen des
Herrn de la Popelinikre geschmückt hat. Die
„Tableaux" wurden nur in einem einzigen Exem
plar gedruckt! Das Unikum fand man nach dem Tode
des Generalpächters in seinem Schreibtisch. Auf Befehl
des Königs wurde es sequestriert und zur Vernichtung
verdammt. Aber die Henker hatten nicht das Herz, das
kostbare Werk dem Scheiterhaufen zu überliefern; eines
Tages war es aus den Akten des Gerichtes verschwun
den, um erst nach Jahrzehnten wieder aufzutauchen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es in Paris
von einem dort lebenden englischen Bibliophilen ent
deckt und erworben. Der glückliche Besitzer gestattete
einem Verleger erotischer Schriften im Jahre 1863, eine
Reproduktion des Buches samt den Illustrationen in
hundert Exemplaren herzustellen, die seither auch
schon zu den größten Raritäten geworden sind.
Ebenfalls in der Epoche Ludwigs XV. existierte
der „Ordre des Aphrodites". Graf Andröa de Nerciat,
als erotischer Dichter ein Nebenbuhler des berühmten
und berüchtigten Marquis de S a d e, hat die Orgien
dieses Ordens zum Gegenstände eines Werkes gemacht,
das im Jahre 1793 unter dem Titel „Les Aphrodites"
erschien mit der fingierten Verlagsbezeichnung „chez
P. F. Didot".
Merkwürdigerweise haben mehr noch als Paris die
Provinzstädte Frankreichs Bibliophilengeseilschaften an
gezogen, wie beispielsweise Troyes, Lyon und besonders
Bordeaux.
Bordeaux hat eine ehrwürdige Geschichte. Als die
Römer Burdigala, das heutige Bordeaux, erobert hatten,
machten sie schon den auch damals bedeutenden See
hafen zu einem Mittelpunkt römischen Lebens und
wissenschaftlicher Bildung. Die Hochschule von Burdi
gala blieb durch manches Jahrhundert des Altertums
bekannt. Mit der christlichen' Geschichte ist die Stadt
ebenfalls früh und in trauriger Weise verbunden. Durch
die Synode von Burdigala ließ Kaiser Theodosius
die Priscillianisten verurteilen und Priscillianus selbst
mit dem Tode bestrafen — eines der denkwürdigsten
Ereignisse der Kirchengeschichte, denn es geschah zum
erstenmal, daß die christliche Kirche „Ketzer“ hinrichtete,
Ketzerblut vergoß. Kurze Zeit darauf war es mit der
römischen Herrschaft in Gallien zu Ende, und die Erb
schaft der Römer traten die Westgoten an. Zum ersten
mal erschien nun ein Germane als Sieger auf französi
schem Boden, und Bordeaux leistete ebensowenig Wider
stand wie Narbonne damals Narbo, oder Toulose damals
Tolosa.
Der Westgotenfürst A t hau 1 f war es, der, über
Gallien triumphierend, -nach Hispanien zog. Als dann
wiederum die Westgoten von den Franken verdrängt
wurden, war Bordeaux eine der ersten gallischen Städte,
die sich dem Frankenkönig Chlodwig unterwarfen.
Nach dem Ende der Karolinger vereinigte der Herzog
Wilhelm von G u y e n n e Bordeaux und die Gas-
cogne mit seinem Stammlande. Ein paar Jahrhunderte
später stand abermals Bordeaux im Mittelpunkt der
Ereignisse, als die englische Herrschaft aus Frankreich
verdrängt wurde. . Bordeaux, das von den Engländern
besetzt gewesen war, öffnete den französischen Truppen
seine Tore, und in Bordeaux wurde 1243 jener Friede
geschlossen, in dem ganz Poitou und die Insel Rht5
von England an Frankreich verloren gingen. Dann frei
lich vergingen Ewigkeiten, in denen Bordeaux keine
politische Rolle spielte. Erst in der großen Revolution
von 1893 wurde es wieder aus dem Schlafe gerüttelt.
Bordeaux hatte für die Girondisten Partei ergriffen. Hier
herrschte der Citoyen T a 11 i e n als Kommissär; unter
Talliens Fenster war die Guillotine errichtet.
Zweimal war Bordeaux provisorische Hauptstadt
des Reiches, 1870 und ein halbes Säkulum später im
Weltkrieg, ln Bordeaux trat am 12. Februar 1871 auch
die große Nationalversammlung zusammen, die nach
der Demission G a m b e 11 a s im Theater von Bordeaux
am 16. Februar Jules Gr6vy zu ihrem Präsidenten
und tags darauf Adolphe Thiers zum Oberhaupt der
vollziehenden Gewalt, zum ersten Präsidenten der dritten
Republik, wählte. Ein Ueberlebender der Nationalver
sammlung von Bordeaux ist Georges Cletnenceau,
der ein halbes Jahrhundert später die Republik vor
dem Zusammenbruch rettete.
Interessant wie die politische ist auch die wirt
schaftliche Geschichte von Bordeaux. In den Hafenplätzen
am Atlantischen Ozean hat im Mittelalter nie ein so
reges Treiben geherrscht wie in jenen am Mittelländischen
Meere. Nur Bordeaux verstand es, sich Bedeutung zu
verschaffen. Es tauschte seine Weine namentlich mit
England gegen dessen Rohprodukte aus. Als natürlicher
Ausfuhrhafen der Hauptweingegenden Frankreichs war
Bordeaux auch am leichtesten imstande, die für den
Wein eingetauschte englische Wolle zu verwerten, da
die Garonne, an deren Mündung Bordeaux liegt, eine
natürliche Handelstraße vom Meere bis Toulouse bildet.
Das wirtschaftliche Ansehen von Bordeaux wuchs mit
den Jahrhunderten, es konkurrierte dieser Hafen schon
im 18. Jahrhundert mit Marseille, und ein englischer
Reisender jener Zeit stellte Bordeaux als Handelshafen
sogar gleich hinter London. Im heutigen Frankreich ist
die Halbmillionenstadt Bordeaux die viertgrößte Stadt
der Republik nach Paris, Lyon und Marseille. Aber der
Fremde, der Frankreich besucht, verirrt sich nur selten
nach Bordeaux. Den Touristen lockt es nicht dorthin.
Desto bekannter und begehrenswerter ist die Stadt den
Feinschmeckern der Literatur, den Sammlern literarischer
Kuriositäten und Raritäten, namentlich aus dem jokosen
und erotischen Gebiete.
Eine ganz bedeutende Anzahl geheim, nur für
Bibliophilen und Subskribenten lustiger und pikanter
Werke, gedruckter Hefte und Bücher trägt den Namen
Bordeaux als Verlagsort. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts
wurde in dieser heiteren Stadt eine „Soctetd litteraire
de Bordeaux“ gegründet, die ein Dutzend pikanter Büch
lein unter dem Titel „Les Diners de la Soctete litteraire
de Bordeaux“ herausgab. Diese Sammlung ist im Laufe
eines einzigen Jahrhunderts so rar geworden, daß niemand