MAK
W AS FANGEN WIR MIT 
DEN ANDERN AN? 
Vor einigen Jahren 
hatten wir in einer 
rheinischen Fabrik 
stadt eine Kunstaus 
stellung. Ein Bekann 
ter, der gern in allem 
ein gebildeter Mann 
ist, bat mich, ihn 
dahin zu begleiten 
und ihm die einzel 
nen Werke zu er 
klären. Er verstände 
sonst so gar nichts 
davon. Ich weiss noch 
gut, wie entrüstet 
dieser Kunstsüchtige 
wurde, als ich ihm 
einen Gang in den 
schönen Herbstwald 
vorschlug. Ich wolle ihm dann unterwegs die 
Schönheit der Landschaft in ihren Formen und 
Stimmungen so gründlich erklären, dass er nach 
her mit dem wütigsten Berichterstatter um die 
Wette Kunst be- und verurteilen könne. 
Was mir damals ein Scherz war, scheint mir 
heute das einzige, was man diesen Unglückseligen 
sagen kann, die mit leeren Blicken und vollen 
Katalogen verlassen durch die Kunstsäle irren: 
„Geht hinaus und seht die Natur, wie sie unauf 
hörlich sich wandelt in Farben und Formen, wie 
sie auf dem Hinweg anders ist, als auf dem 
Heimweg, wie die Sonne über die Erde spielt in 
tausend wandelnden Schatten und Lichtern, wie 
Wolken und Nebel wachsen und sterben und 
ewig wandern, wie in einem einzigen Wasser 
spiegel mehr Lebenswechsel ist, als ihr jemals 
aussehen könnt: Ihr werdet bald merken, wie 
ärmlich der klügste Mann sich da ausnehmen 
würde mit allen verständigen Erklärungen. Wie 
ihr gar nichts anders thun könnt, als sehen, immer 
sehen. 
Und wenn ihr dann eines Tages im Dunkel 
am Waldteich oder in der Sonne auf freiem Felde 
empfindet, wie Baum und Gras und Luft und 
Wind in eins, in euch zusammenklingen, und ihr 
euch selbst da mitten drin entdeckt wie ein un 
begreifliches Rätsel in einem Meer von Rätseln: 
dann habt ihr ein Wunder erlebt. Und ihr wer 
det wissen, wie das tiefste, was da in euch an 
geklungen ist, nie mit Worten gesagt, nur gefühlt 
werden kann. Mit dieser Gewissheit geht zurück 
in die Bildersäle und wenn euch noch immer 
hunderte von den Tafeln stumm bleiben: in einer 
werdet ihr doch euer Wunder wiederfinden. 
Denn nichts anderes stellt der Maler in seinen 
Bildern dar, als die unsagbaren Wunder, die ER 
aus der Natur gesehen und erlebt hat. Manches 
hat sich vielleicht nur ihm allein offenbart und 
es wird ihm in Ewigkeit keiner völlig glauben. 
Ahmt deshalb nicht den bebrillten Kunstrichtern 
nach und geht verächtlich vorüber, wenn eine 
solche Nummer kein Gnadenkreuz in ihrem Ka 
talog findet. Wo euch kein Wunder spricht, wo 
nur Farben und Formen euch kalt lassen, da 
denkt: Wir Wissens nicht, ob es ein Wunder ist, 
WIR habens nicht erlebt. Und wenn euch bei 
andern gesagt wird, es sind Handwerker und Ge 
schäftsleute, die nie ein Wunder fühlten und doch 
diese Bilder malten, weil sie einen guten Ge 
schmack besitzen, so lasst es gesagt sein. Aber 
kümmert euch nicht darum. Der EUER Wunder 
gemalt hat, will nicht vor diesen glänzen. Er 
will seine und eure Freude noch einmal geben, 
reiner von Nebeneindrücken und voller im Klang. 
Vor seinem Kunstwerk bleibt — und wenn ihr 
ganz allein da steht, desto besser — und seht es 
aus, ganz aus. Es wird euch unmerklich zu an 
dern Wundern führen, von dem Saal in die Natur 
und von der Natur in den Saal. Ihr werdet 
reicher werden und eure Wunder köstlicher. — 
Ihr werdet eines Tages erkennen, dass ihr man 
ches, was euch ein Wunder schien, mit Vielen, 
Allzuvielen teilt, dass es gar kein Wunder mehr 
ist. Ihr werdet es zur Seite legen und nicht trau 
rig sein. Ihr werdet immer edleren Ersatz finden 
und euch tiefer hineinleben in dieses Reich, wo 
kein Trugschluss das beste Gedankenglück zu 
nichte machen kann, wo ihr Sicherheit und Ruhe 
fühlt in dem einen Leben, das in euch und um 
euch in Wundern spricht, die ewig sicher sind 
vor aller Gedankenschärfe. Dann werdet ihr die 
schönen Kataloge den Kassierern lassen und mit 
leeren Händen, aber mit vollen Blicken durch die 
Bilderhallen gehen und heilige Tempelweihe füh- 
JOHANN 
V. KRÄMER. 
ARABISCHER 
BÄNKELSÄNGER.
	        
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