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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVIII (1973 / Heft 129)

Bringt heute die Kunst Mechanisches ins Spiel, 
Automaten, Androiden („künstliche Menschen"), 
bleibt die Frage nach dem „sozialen Bezug" 
solcher Basteleien nicht aus, in einer Zeit der 
„Spielhöllen", Flipperkästen und lärmenden Mu- 
sicboxen, in der die Vergnügungsindustrie kriti- 
siert wird, weil sie die industriellen Arbeits- 
zwänge mit dem Einsatz bunterer Mittel nur 
fortsetze. Sind die Automatenmenschen, die von 
Harry Kramer und Studenten des Bereichs Ma- 
lereifPlastik der Gesamthachschule Kassel ge- 
schaffen wurden, als Anklage einer „technischen 
Welt" zu verstehen, oder sind sie „affirmativ", 
das heißt eine ästhetisierende Verherrlichung 
dessen, was revolutionär zu verändern wäre, 
statt es im Jux zu verharmlosen? lndes ist solche 
soziale und klassenkömpferische Gretchenfrage 
an die Kunst, vorgetragen mit einem permanen- 
ten und schon erstarrten Ernst, der lustlos macht, 
nicht mit einer simplen Ja- oder Nein-Entschei- 
dung zu beantworten. 
Zunächst handelt es sich um ein Thema, das 
Proiekt- und Gruppenarbeit ermöglicht. Man 
muß sich an einer Sache, die vielfältige Ar- 
beitsgänge erfordert, zusammenfinden, es sind 
Modellformen herzustellen, es ist zu bemalen, 
Mechanik zu installieren, es gibt Detailarbeit in 
Menge, unumgehbare Exaktheiten sind zu leisten, 
und dauernder Austausch des „Know-how" ist 
nötig, um die Sache zum Funktionieren zu brin- 
gen. „Die Sache": das ist nicht nur eine Anzahl 
vorweisbarer Endprodukte, sondern auch die 
Gruppenarbeit selbst. Die ist nicht selbstver- 
ständlich und sollte auch nicht, als eine ästheti- 
sche Praxis, unter romantischem Rückgriff mit 
Bauhüttengeheimnis, Präraffaeliten-Bund oder 
dem Traum van Goghs von einer Künstlerge- 
meinschaft assoziiert werden. Jedoch kann solche 
Gruppenarbeit dazu beitragen - und die Mit- 
glieder der Gruppe haben es praktiziert -, von 
der üblichen Künstlerkonkurrenz etwas wegzu- 
kommen. Man lernt die Schwächen des anderen 
kennen - von denen die eigenen vielleicht nicht 
so weit entfernt sind - und deren verhaktes Ver- 
hältnis zur Stärke, daß beides einen Prozeß 
bildet, der unter günstigen Umständen zum viel- 
zitierten „Lernprozeß" werden kann. Kromer 
meint, eigentlich liebe man die Leute nicht um 
ihrer Stärke, sondern um ihrer Schwächen willen, 
und entscheidend sei, daß der Gruppenprozeß 
allen Beteiligten durchsichtig würde; so unge- 
fähr redet er, aber vermischt mit Geschichten 
aus Las Vegas, Paris und Mexiko, betreffend 
den Preis von Cowboy-Ledersötteln oder das 
Verhältnis des französischen Königs zu Denis 
Papin, gleichzeitig zu jeder Tages- und Nacht- 
stunde mit den Händen in Gipshöhlen beschäftigt 
oder irgendeinen Fummelkram unter den Fingern, 
bis man schwach wird und mitmacht. 
Daß die Gruppe Androiden herstellte, ist auch 
mit persönlichen Motiven verknüpft. Natürlich 
gibt es auch historische Einflüsse: Das Mechani- 
sche in seiner Wiederbelebung durch die Kinetik, 
der plastische Neorealismus, die Verbindungs- 
möglichkeit beider „Richtungen" unter Erinne- 
rung ans historische Raritäten- und Kuriositäten- 
kabinett, etc. Aber für die Beteiligten war es 
auch reizvoll, sich selbst in Gips abzunehmen - 
das Ganze begann mit Eigenabgüssen, und die 
sind auch noch in den jetzigen Figuren -, und 
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wurde aus der Selbstdarstellung auch ein Stück 
Selbstpersiflage. Aber schließlich kann auch im 
Persiflieren der Eitelkeit des Sichspiegelns noch 
die Eitelkeit stecken, die Eitelkeit persiflieren zu 
können, vergleichbar den Verkleidungen, mit 
denen iene Leute im Fasching sich häßlich ma- 
chen, die zu wissen glauben, in Wahrheit nicht 
häßlich zu sein, auch das gehört zum oben er- 
wähnten Verhältnis von Stärke und Schwäche. 
Aber auch dabei bleibt's nicht stehen im Arbeits- 
prozeß, denn endlich durchstehen die fertigen 
Androiden mit ihrer beharrlichen Eigenbewe- 
gung auch die verschiedenen Motivationen ih- 
rer Produzenten. 
Das Thema der Gruppenarbeit, das Spielraum 
für die einzelnen Mitglieder ließ, der erlaubte, 
Ideen zu entwickeln, bot nicht nur den Realisa- 
tionen der Ideen Widerstand - in der Vorstel- 
lung bewegt sich manches leichter -, es kommt 
nun auch in diesem Thema der Widerspruch 
zwischen Organik und Mechanik zum Vorschein, 
ein durchaus faszinierender. Und hier ist eben- 
falls Dialektik erfahrbar; das aber nicht nur 
theoretisch, sondern im Vollzug ästhetischer Pra- 
xis; Die mechanische Bewegung der Androiden 
wirkt nicht lediglich wie eine unvollkommen 
organische, ihr gegenüber mag auch die orga- 
nische wie eine unvollkommene mechanische wir- 
ken, wie bereits Kleist bemerkte, und der Kenner 
der Materie verzeihe diesen gängigen Hinweis. 
Man entdeckt aber auch, daß iede schnelle Be- 
wegung solcher Puppen das Publikum nur zum 
Lachen bringt und daß nicht alle Bewegungs- 
möglichkeiten zugleich sich abhaspeln dürfen; 
daß langsame und geteilte Bewegungen iedoch 
unheimlich und faszinierend wirken und daß 
neben diese Bewegungsreize bestimmte Material- 
verfremdungen treten. So gerinnen z. B. die im 
Gipsbindenverfahren abgenommenen Kleiderfal- 
ten zu einer befremdlichen Starrheit. Das alles 
bietet genug Material zu Reflexionen, und so 
kommen auch im Reflektieren die sozialkritischen 
Fragen zu Wort, deren Beantwortungen heute 
allzuoft prompt und vorprogrammiert erfolgen. 
Neben den Androiden finden sich in der Aus- 
stellung Dienstleistungs- und Unterhaltungsauto- 
muten, ältere Münzautomaten und typische Las- 
Vegas-Geldspielautomaten sowie jüngere für 
Coca-Cola, Handtücher, Preservative, Seife und 
Parfüm. lhr ästhetischer Aufwand interessiert 
mindestens ebensosehr wie ihre Zweckbestim- 
mung, ein Aufwand, der bei den Unterhaltungs- 
opparaten für Schießen, Musik, Bowling, Flip- 
pern sich zu einem monströsen Styling verselb- 
ständigt. Alle Automaten und Androiden sind 
„benutzbar", und der Ausstellungsraum wird zur 
Spielhalle. 
Doch sollte die Einladung zur Benutzung, die 
Kunstausstellungen heute oft aussprechen, auch 
in diesem Falle weder umstandslos als eine 
Möglichkeit zu „gesellschaftlicher Emanzipation" 
interpretiert nach dem amüsierten Publikum 
entgegengesetzt die Warnung aus der Kabbala 
drohend entgegengehalten werden: „Halt ein! 
Mit Gespenstern spielend, wirst du zum Ge- 
spenstl" Die Gespenster, die heute die Welt 
bedrohen, befinden sich nicht in Kunstausstellun- 
gen, und sie sind perfekter als die ausgestellten 
Androiden. Auch diesen hier wird es ergehen, 
wie den Automaten des berühmten Vaucanson, 

	        
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