Auf dem Than-ka ist der „Donnerkeil-
träger", von zwei Yab-yum-Darstellun-
gen29 begleitet, in der Mitte des Palastes
rechts oben zu Enden, versehen mit allen
wichtigen Kennzeichen: mit blauer Haut-
farbe, Dhyänaäsana 39, Bodhisattvaornamen-
tcn 31 und mit Händen, die in der Vajrahum-
kära-mudrä 31 als Symbole Vajra und
Ghantä 33 umfassen (Abb. 6).
Bei den von huldigenden Figuren umge-
benen Gestalten unterhalb dürfte es sich
um Kulika-Könige handeln34, während
oben fast in der Mittelachse des Bildes
Tsori-kha-pa mit zwei Lamas thront
(Abb. 7). Tson-kha-pa (1357-1419), der
vergöttlichte Reformer der gelben Kirche,
wird als eine Inkarnation des Bodhisattva 35
der Weisheit Mafijusri betrachtet. Gleich
diesem verweilen seine Hände in der
Dharmacakra-mudrä, in der predigenden
Stellung, die das Drehen des Rades der
Lehre symbolisiert 36. Die weiteren Merk-
male sind ebenfalls ausgeprägt: Die spitze
gelbe Mütze mit den lang herabhängenden
Ohrlappen und die von den Händen ge-
haltenen Stcngel mit Lotusblüten, die in
Schulterhöhe zur Rechten ein Schwert und
links ein Buch tragen. Beide, Khadga und
Pustaka, sind Symbole des Mafijusri, wobei
das Buch die höchste Weisheit versinn-
bildlicht und das Schwert des Wissens
zum Zcrteilen der Wolke der Finsternis
des Nichtwissens dient.
In der lamaistischen Götterwelt spielen die
Yi-dam, Schutzgottheiten im Rang eines
Buddha, die es in zornigen und in fried-
lichen Formen gibt, und die Dharrnapäla,
die Verteidiger der Lehre, die die Stufe
eines Bodhisattva einnehmen, eine erheb-
lichc Rolle. Sie sind durch die zwei Gott-
heiten auf der Wolke links oben vertreten
(Abb. B). Zu den Yi-dam gehört die
komplizierte, aber milde Erscheinung des
Sang-dui in der großen Aureole, der mit
seiner Sakti37 sitzend vereint ist. Beide
haben blaue Körper, drei Köpfe 4 blau,
weiß und rot 7 mit ie drei Augen und
sechs Arme. Die die Yurn urnfangenden
Hände in der Vajrahumkära-mudrä zeigen
Glocke und Donnerkeil, die übrigen
Padmaliß, Khadga39, Cakraw und Cin-
tämani", Attribute, die sich in den Hän-
den der Sakti wiederholen. Von den
Dharmapälas ist der Beschützer der Gelb-
mützensekte dargestellt, eine furchtbare
Manifestation des Maijusri, der mit Schä-
dclkrone und Schädelgiirtel ausgestattete
Yamäntaka. Seine Form ist die des Bhairava:
Blaue Hautfarbe, dreiäugiges Stierhaupt,
zwei Arme und nach rechts ausschreitend.
Die ihn charakterisierenden Symbole sind
Schädelschale iind Messer. Sie befinden
sich auch in den Händen der Sakti, die
mit Yamantaka zusammen, der als der
Überwinder des Todesgottes Yama gilt,
in der Yab-yum-Umarmung gegeben ist.
Das Rollbild des Österreichischen Museums
für angewandte Kunst muß als ein be-
[ehrendes Exempel zu den Traditionen über
Sambhala und über den Sieg gegen die
Mohammedaner verstanden werden. Die
Götter, die mit dem Thema in einem inne-
24
ren Zusammenhang stehen, dominieren
daher nicht, sondern sind an den Rand
gerückt, um der anschaulichen Erzählung
und ihrem überaus dichten Bildgefüge
den weit größeren Raum zu überlassen.
Wie in der tibetischen Kunst üblich, folgen
dabei die dem Pantheon entnommenen
Typen den durch den ikonographischen
Kanon vorgezeichneten Formen, in denen
bis heute noch immer Nachwirkungen der
in Bengalen beheimateten Päla-Schule
(8.-l1. Jhdt.) weiterleben. Auch die Dar-
stellung von Tson-kha-pa mit seinen
Begleitern muß sich zwangsläufig in Pro-
portionen, Sitzstellungen, Körper- und
Handhaltungen nach den vorgeschriebenen
Regeln richten, die durch das in den
Gesichtszügen zu beobachtende, ganz zarte
Bemühen um eine gewisse Individuali-
sierung kaum gelockert werden.
Eine etwas größere, wenn freilich auch
noch immer sehr beengte Freiheit ist dem
lamaistischen Künstler, der meist selbst
Mönch ist, bei der Schilderung des durch
den Inhalt der Legenden bedingten szeni-
schen Geschehens erlaubt. Dies wird deut-
lich an den mit expressiven Gesten agieren-
den Figuren aus der Schlacht, an den
kleinen Mcisterleistungen einer einfachen
Zeichenkunst, die etwa an dem reitenden
Drag po ak'or lo can (Abb. 9) bis zum
Dämonisclien oder bei den Mohammeda-
nern bis zu den Grenzen des Karikatur-
haften gesteigert wird. Die winzigen profil-
ansichtigen Gestalten in den kleinen
Tempelbezirken innerhalb des „Rades" 7
Lehrende mit ihren Schülern und Dienern 7
sind weitgehend schematisiert, obwohl
auch hier Varianten bemerkbar sind, die
die eintönige Gleichförmigkeit durchbre-
chen. Zwischen die Gebäude sind ge-
legentlich gcnreartig wirkende Menschen
und Tiere eingestreut.
Der landschaftliche Umraum bietet dem
Maler gleichfalls die Möglichkeit zu einer
freieren Gestaltung. Die tibetische Kunst
hatte keine eigene Landschaftsmalerei ent-
wickelt; alle ihre Elemente, die stets nur
untergeordnete Kulissen zu der eigent-
liehen religiösen Aussage sind, lieferte die
chinesische Kunst. Das bezeugen z. B. die
Berge, die Felsen, das Wasser und die
Wolken auf dem Than-ka, an dem die
chinesischen Anregungen noch in mannig-
facher Weise zu Wort kommen: In der
ungemein zarten Ausführung der mit
Sicherheit gehandhabten Zeichnung, unter
reichlicher Verwendung von Gold, in den
kurvilinearen Bewegungsmotiven und in
der verhaltenen Farbgebung, bei der Grün
überwiegt. Ferner in der dekorativen Note
und in der Freude an einer möglichst
exakten Wiedergabe aller Details, mit
architektonischen Formen, Kampfwagen,
Thronen, Ehrenschirmen, üppig gemuster-
ten Kleidern, Rüstungen und Pflanzen usw.
in chinesischer Manier.
Dieser starke chinesische Einfluß entspricht
der Entstehungszeit zu Ende des 17. oder
am Anfang des 18. Jahrhunderts, als das
Reich der Mitte den Lamaismus aus politi-
schen Gründen auf das kräftigste förderte.
ANMERKUNGEN 29-41
v Yab-yuxu : Varer-Mum: Stellung. nie uninrsniing
eines Gottes mit seiner Sakli, m scincr weiblichen icrsri;
symbolisiert die auf der Vcr nigung der Gegen ie
beruhende volle Energie des Gollcs und die Vorhin ung
von Materie und Geist,
w Silzweise der Meditation.
11 Bodhiszrtvadarsrellungen tragen iiirsriieiien Schmuck. e
Bodhiszttvaist ein vor der Buddhnschafl srenendes Wesen.
11 Mudräs sind symbolische Handhclllungcn. - vnjrriinrn.
kärii: Der hüchsm und cwigr: Buddha.
11 Vajm (der Donnerkcil) isr ein inaniiiiehes und Ghantä
(eine Glocke niir einem Vajragritf) isr ein weibiiehes
Sinnbild.
M siehe Anm. 17.
M Vgl. Anm. a1.
M Vgl. Anm. 40.
37 Siehe Anm 29.
n Lotusblütc, Symbol der Geburt und der Selbstschöpfung.
39 Schwert: Sinnbild Gir die Erleuchtung der Welt.
W Das Rad, Zeichen der höchsten Vollkommenheit, steht
im buddhistischen Sinn für das Rad 69T Lehre. E ist
Symbol nir die Verkündung der Glaubenswahrheiten,
deren Verbreitung diiren das Druhrcn des Rades, 11.11.
durch das Predigen erfolgt.
41 Das Juwel, das alle Wünschc erniiie.