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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 154 und 155)

Thomas Zaunschirm 
Tantra- und moderne Kunst 
Anmerkungen 1-12 
'Ausstellung für die Spiele der XX. Olympiade, Mün- 
chen 1972. 
'W e en schon Proteste und Mahnungen laut geworden 
sin . go verweist Klaus Jürgen-Fischer, Fragen an den 
Ardlaismus, das kunstwerk, XXX, Februar 1977, S. 3 f., 
auf die Unmöglichkeit für den modernen Künstler, einen 
„primitiven" Ausdruck zu schaffen. 
tS. dazu: Kellerer, Christian: Obiet trouye, Surrealismus, 
Zen, Hamburg 1968; Eco, Umberto: Zen und der Westen, 
in: Das offene Kunstwerk, 1962, Frankfurt a. M. 1973. 
'Z. B. Ludwig, Horst: Aspekt zur orientalischen Orna- 
mentik und zur Kunst des 20. Jahrhunderts, in Katalog 
„Weltkulturen", 5. 123 ff. So seien etwa die Vorausset- 
zungen der Op-drt und der islamischen Kunst andere, 
„das Ziel aber das gleiche", S. 125. 
'Mookeriee, Aiit: Tantra-Kunst, Paris, New York, Basel, 
etc. 1967, Tantra Asano, Wien, München, etc. 1971, Yoga 
Art, London 1975, The Tantric Way, London 1977 (mit 
Madhu Khannal; Rawsan, Philipp: Katalo „Tantra Art", 
London 1971, The Art of Tantra, Lan on, New York 
1973, Tantra, The lndian Cult af Ecstasy, London, 
Delhi, etc. 1973. 
fVon Betrug und „purer Willkür" spricht Neven, Armand 
in seinem Text „Zölibat und Gewaltlosigkeit", der nicht 
in den Katalag „Junggesellenmasdlinen", Paris 1976, 
etc. aufgenommen wur e, außerdem in einem Brief an 
den Verfasser. Audl Kooii, K. R. van, äußerte sidt 
skeptisch zu Mookeriees Büchern, in zwei Rezensionen der 
Bibliographie zur S mbolik, lkono raphie und Mytho- 
logie,Jg.1,196B, S. 6 f., Jg. 5,197 , S 117. Ä 
7 Die Wurzel „shak" bedeutet Können, Shakti : Fähigkeit, 
Potentialität. 
'S. dazu: Bharati, Agehananda Die Tantra-Tradition, 
1965, Freiburg i. B. 1977. 
'Wie das Neven verschlägt. l 
"in anderen Fächern wird die Situation, dieses Grund- 
lagen-Dilemma, immer mehr gesehen und analysiert; 
vg. Bürger, Peter: Aktualität und Gesctlictltlicttkeit, Stu- 
dien zum gesellschaftlichen Funktianswandel der Litera- 
tur, Frankfurt o. M. 1977, dessen marxistische Methode 
nicht übertragbar ist, dessen Analyse des Problems 
aber auch für die Kunstgesdlichte gilt; oder Himmel- 
mann, Nikolaus: Utopische Vergangenheit, Berlin 1976, 
besonders S. 9, 91 ff., der den Einfluß ästhetischer Ein- 
stellung der zeitgenössischen Kunstszene auf die archäo- 
logische Methodik betrachtet. Ganz allgemein ist der 
Wlssenschaftsforschung, ohne Rüdxsicht auf die daraus 
geforderten Konsequenzen bei Feyerabend, Habermas, 
uhn,Mittelstraß u.a.,die Analyse der„obiektivistischen" 
Tendenz der Wissenschaften ein gemeinsames Anliegen 
(der Verf. bereitet eine Arbeit über die Folgerungen für 
die Kunstgesdtichtsmethodik vor). im Rahmen der Kunst- 
gesdiidlte sind erst zaghafte Ansätze zu sehen, am 
ehesten gelingt es noch Museumsleuten, den Sdtritt 
ins Neuland zu wagen. vgl. dazu: Rohmeder, Jürgen: 
Methoden und Medien der Museumsarbeit, Köln 1977; 
Hofmann, Werner: Kunst - was ist das?, Köln 1977. 
"Sogar bei der Erklärung ein und desselben Textes, 
etwa Bhoratas Theorie des Dramas (4. oder 5. Jahrhun- 
clert n. Chr.), mögen durch Zwei Autoren die An- 
sichten vertreten werden, es handle sich um einen Zu- 
stand des Künstlers oder des Rezipienten. Barlingay, 
S. S.: Some concepts in Bharatas theory of drama; 
Krishnamoorthy, K; Traditional 
theory und proctice. 
Activity, Simla 1968. 
"Diese Tendenz ist all emein gülti , auch wenn wie in 
der Ästhetik des um 1 lebenden Tantrikas aus Kashmir, 
Abhinavagupta Gnoli, R.: The Aesthetic Fxerienoe 
according to Ab inavagupta, Ram 1965) versu t wird, 
dieses letztlich religiöse Bestreben vom ästhetischen 
zu unterscheiden, was nicht ganz gelungen sdteirlt. 
lndian aesthetics in 
in: lndian Aesthetics and Art 
Der Einfluß außereuropäischer Gestaltungen auf 
die Entwicklung der Neueren Kunst schließt alle 
Kulturkreise ein. Die Ausstellung „Weltkulturen 
und moderne Kunst"' hat das in umfassender 
Weise dokumentiert. Die Nuancen einer frucht- 
baren Auseinandersetzung reichen von flüchtigen 
lmpressionen, Reflexionen exotischer Motive bis 
zu Versuchen einer Nachschöpfung". 
Künstler lassen sich, ihren ieweiligen Intentionen 
entsprechend, aus dem unerschöpflichen imagi- 
nären Museum der Weltkunst immer wieder neu 
anregen. Das mag sich auf den formalen Bereich 
beschränken, kann aber auch zu Bemühungen 
religiöser Andacht und dem Studium fremder 
Weltanschauungen führen, was etwa für den 
Japonismus der sechziger Jahre zutrifftf. 
Die distanzlose Verfügbarkeit in Museen und 
Reproduktionen hat auch Kunstkritiker dazu ver- 
führt, ahistorisch Analogien herzustellen, gar von 
gleichen Zielen der Gestaltung zu sprechenf 
Auch für die Tantra-Kunst Indiens, die seit zehn 
Jahren ins Blickfeld der Künstler und Kritiker 
gerückt ist, hat man in verschiedenen Zusam- 
menhängen eine allgemeine Sphäre menschlicher 
Kreativität postuliert. Damit werden analoge 
Gestaltungen, erstaunliche vermeintliche Paralle- 
len erklärt. Diese Betrachtungsweise hat eine 
historische Einordnung unmöglich gemadlt. Das 
Wissen um die Tantra-Kunst hat sich trotz der 
zahlreichen Publikotionenf immer mehr verwirrt. 
Die Kritik hat scharf gegen den „Entdecker" 
polemisiert und sogar einen systematischen Be- 
trug des Kunsthandels vorgeworfenf. 
Die Positionen stehen sich vorerst sdwroff ge- 
genüber, eine Diskussion hat noch gar nicht 
begonnen. 
Die in bibliophil ausgestatteten Bänden publi- 
zierten Werke werden vorerst nur vage datiert 
(die Datierungen schwanken manchmal um 
200 Jahre), eingeordnet und ikonographisch on- 
deutend kommentiert. Die eigentlichen Texte be- 
schränken sich darauf, das Konzept des Tantris- 
mus vorzustellen. Nun ergibt Tantra selbst als 
religiöse Strömung kein einheitliches Bild. Die 
ersten tontrischen Texte tauchen im 6. Jahr- 
hundert n. Chr. auf und haben den Hinduismus 
in gleicher Weise wie den Buddhismus, mit wel- 
chem sie in ganz Asien bekannt wurden, nach- 
haltig beeinflußt. 
Wenn man eine knappe Bezeichnung für Tantra 
geben will, so muß man das Hervorbrechen 
präarischer Elemente, vor allem des Mutterkultes, 
die rituell-magische Verwendung von Silben- 
kombinationen und den Einsatz psychophysischer 
Techniken erwähnen. 
Im Begriff der Shakti, der weiblichen Göttin, ha- 
ben sich die unzähligen lokalen Muttergottheiten 
auf allen Niveaus in ieder Funktion (von der 
Schöpfung bis zum Tod) gesammelt. Sie reprä- 
sentiert das Leben und Bewußtsein in gleicher 
Weise, ist das Energieprinzip schlechthin, das 
sich auf allen Ebenen manifestiert und verschie- 
dene Formen und Namen annimmt7. 
Die Mantra-Vidya, die Wissenschaft der Laute, 
steht damit in engem Zusammenhang; ieder Form 
entspricht ein bestimmter Klang. Rezitiert der 
Adept diesen Klang, ruft er zugleich das Bild der 
Gottheit. Die Namen der groben Formen sind 
dabei die niedrigste Stufe, das Urlicht, in wel- 
chem das Bewußtsein des einzelnen in der Be- 
freiung aufgeht, ist das Ziel und die Quelle. Die 
Formen sind in eine Hierarchie eingebundene 
Abbilder der Laute; in moderner Terminologie 
könnte man von einer teleo-soteriologischen Iso- 
morphie sprechen. 
Das Erlösungsziel wird durch die verschiedenen 
Techniken, die Yoga einschließen, angestrebt. Im 
Tantra wird das Erreichen der Einheit auch durch 
Maithuna,die rituell-geschlechtliche Vereinigung, 
symbolisiert - ein Moment, das sicher auf alte 
Fruchtbarkeitsriten zurüdrgeht, aber eine neue 
Interpretation erhält. Das Erläutern dieser Hand- 
lungen, deren Verständnis vom geistigen Niveau 
des Betrachters abhängt, wird durch eine „inten- 
tionale Sprache" esoterisch verschleiert". Die An- 
feindungen und Mißverständnisse, denen sich 
Tantrikas ausgesetzt sahen (und sehen), sind auf 
manchmal extrem grobe Terminologie und Hand- 
lungen, die die von Regeln determinierten Inder 
schockieren mußten, zurückzuführen. 
Tantra-Elemente sind aber andererseits im Hin- 
duismus so selbstverständlich geworden, daß es 
schwer ist, die Unterschiede zu definieren. Ob 
man wegen dieser religionshistorischen Schwie- 
rigkeiten den radikalen Sdlnitt machen muß, 
Tantra überhaupt nur in Tibet und Nepal, also 
in der buddhistischen Fassung, zu akzeptieren", 
muß hier offen bleiben. 
Da Tantra als esoterische Weltsicht Kosmologie, 
Astrologie, Anatomie u. a. einschließt, können 
viele Gestaltungen, außer den in der Meditation 
verwendeten Kultbildern, ebenso als tantrisch 
bezeichnet werden. 
Die Einwände gegen den Terminus Tantra-Kunst 
lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen. 
Bislang ist kein gemeinsamer Nenner sichtbar 
geworden, die chaotische Uneinheitlichkeit läßt 
keine stilistisch-formale oder ikonographisch-the- 
motische oder auch nur eine Begrenzung auf 
eine Kunstgattung zu. Das ist nicht dadurch bes- 
ser geworden, daß im Laufe der letzten zehn 
Jahre in den Büchern eine Wandlung festzustel- 
len ist, deren Kriterium nicht neue Einsichten in 
die Tantra-Kunst sind, sondern der allgemein 
festzustellende Wandel der ästhetischen Einstel- 
lung. Darin wird eine von der traditionellen 
Kunstgeschichte verdrängte Schwäche sichtbar, 
die Tendenz zur sachgerechten lnterpretation, zur 
Obiektivität, vor welcher sich der subjektive 
Faktor bescheiden, nach idealistischer Ansicht 
überhaupt verschwinden soll". 
Diese von der Praxis ständig durchbrachene 
Haltung, weldie nur dazu geführt hat, daß der 
persönliche Standpunkt unreflektiert in die For- 
schungsergebnisse eingeflossen ist, hebt sich aber 
beim Thema Tantra, ganz unabhängig vom er- 
wähnten Problem der Betrachtungswandlung, in 
paradoxer Weise selbst auf. 
Die indische Ästhetik, welche um den nicht über- 
setzbaren Begriff „rasa" (wörtlich „Saft") kreist, 
verharrt ständig in einem Schwebezustond zwi- 
schen den Subiekten Künstler und Betrachter". 
Danach sind die im Betrachter hervorgerufenen 
Reaktionen wichtiger als der Werksgehalt. Das 
Werk hat die Aufgabe, das Bewußtsein von den 
Phänomenen zu lösen, in einen Prozeß der Auf- 
hebung der formalen Vielfalt zu führen. Das 
Werk im ursprünglichen Kontext verlangt vom 
Betrachter, es in der Rezeption verschwinden zu 
lassen". Das Obiekt (Werk) verweist im Tantra 
auf das Subiekt (Betrachter). Wollte man „sach- 
gerecht" vorgehen, „obiektivistisch" im ursprüng- 
lichen Zusammenhang diese Epoche behandeln, 
müßte man subiektivistisdt vorgehen, weil das 
dem Gegenstand zukäme. Obiektivismus fordert 
bei der Betrachtung der Tantra-Kunst seine eigene 
Auflösung. Der daraus resultierende Subiektivis- 
mus (in dieser Färbung) verlangt aber nach 
Wandlung des Betrachters und tendiert zum 
Verzicht auf das Obiekt. Eine Interpretation ist 
so unmöglich. 
Das heutige lnteresse an diesen Werken ist be- 
stimmt durch die Analogien mit der modernen 
Kunst. Man könnte überspitzt formulieren, die 
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