CONSTANTIN MEUNIER 50'
SCHUMANN-DRESDEN S0
S hat sich in der jüngsten Zeit in der Plastik
eine Stilrichtung ausgebildet, die nichts
mehr mit der Antike gemein hat, die, wenn
überhaupt an etwas in der Vergangenheit,
nur an die italienische Plastik des uns
so geistesverwandten Quattrocento erin-
nert, die thatsächlich auch vielfach bei
Entstehung dieser neuen Kunst Pathin ge-
standen hat. Denn man geht vor der Hand
nichtmehrausaufeinidealistischesTypisch-
machen der Gegenstände, vor allem des Menschen, sondern auf ein
realistisches Individualisiren derselben. Man rundet und glättet nicht
mehr bis aufs Äusserste das immer doch in etwas unvollkommene
Modell der Natur ab, man bleibt bei der Wahrheit der Natur und
sucht sie nicht zu corrigiren, wohl wissend, dass eine blosse unveränderte,
aber verständnisvolle Wiedergabe derselben schon Kunst ist." -
Der Kunstgelehrte, der kürzlich diese halbwahren Worte schrieb,
muss wohl Constantin Meunier nicht kennen, den belgischen Bild-
hauer, der die ganze Grösse der Antike vereinigt mit dem vollen
Geiste der Neuzeit, und dessen Werke in den letzten beiden Jahren
nacheinander in Paris, in Dresden, in Berlin und in Wien wie eine
Offenbarung gewirkt haben. Gewiss, auch der Naturalismus, das ist
die wahllose, getreue Abschrift der Natur, ist Kunst, aber wer hielte sie
für die höchste Kunst, wen vermöchte sie auf die Dauer zu befriedigen?
Welchen Beschauer? Welchen Künstler? „Der wahre Stil kommt
dann, wenn der Mensch, selbst gross angelegt, nach Bewältigung der
unendlichen Feinheiten der Natur, die Sicherheit erlangt hat, in das
Grosse zu gehen. Mit einem Worte: Stil ist richtiges Weglassen des
Unwesentlichen. Der sogenannte Realist (richtiger Naturalist) bleibt
immer im Detail stecken, Realismus (richtiger Naturalismus)" ist die
leichteste Kunstart und kennzeichnet stets den Verfall. Wenn die
Kunst das Leben nur copirt, dann brauchen wir sie nicht." Diese
Worte Anselm Feuerbachs gelten noch heute. Wer sind denn die
"' Offenbar sind die bekannten Schlagworte einander so gegenilberzustellen: Realismus und
Phantasiekunst (bezeichnen die Stoffwahl), Naturalismus und stilisirende Kunst (bezeichnen die An
der Wiedergabe der Natur), individuelle und conventionelle oder schulmässige Kunst (bezeichnen die
Auffassung); Idealismus aber bezeichnet eine allgemeine Lebensanschsuung, nicht eine besondere
KunstauHassung.
26