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AN:
IN Künstler, der als Dreiundsiebzigjähriger noch
modern ist, der in den Tagen der Nazarener, der
Comelius und Genossen zu schaffen begann und
dennoch der Richtung unserer Zeit entspricht und
als Meister von heute genau so geehrt wird, wie
als Meister von gestern - das muss ein grosser
' , Künstler sein. Ein solcher - ein Künstler von
Gottes Gnaden - ist Joseph von Kopf, der 1852
als armer fahrender Gesell (hätte beinah gesagt
„Scholar") über Ponte Molle gezogen kam, um
in Rom sein Glück zu suchen und zu finden und neben dem Lorbeer-
kranze des Ruhmes auch den Bacculus des „Professors", den der Liebling
Apolls im Ränzlein trägt wie die Soldaten Napoleons den Marschallsstab,
und, last not least, . . . . das kleine „von", die amtliche Quittung über
das Genie.
Als Kopf nach schwerer Jugendzeit und unendlichen Entbehrungen
sich den Weg über die Alpen und damit zur geliebten Antike gebahnt,
war von einer ausgesprochenen Eigenart seiner Kunst. noch keine Rede.
Der angehende Künstler hatte zwar in München wie in Freiburg Lehrer
gefunden, die ihn pflichtschuldigst und mit Wagner'scher Famulus-
Pedanterie in die ersten Elemente der sogenannten Kunst einweihten,
aber von einem höheren Schwung, einer freien Bethätigung des Künstler-
genius wussten die guten Leute nicht nur selbst nichts - sie suchten auch
den Geist des immer kecker, immer höher strebenden Schülers in enge
Fesseln zu schnüren. Freilich, nur mit dem Erfolge, dass der schwäbische
Bauernjunge, der hundert-, nein tausendmal mehr von wahrem Künstlerblut
in seinen Adern rinnen hatte als jene Philister, zum Wanderstab griff
und ins gelobte Land des Schönen pilgerte, seinem Stern entgegen. Wer
Joseph von Kopf heutzutage als den grössten Porträtisten Deutschlands
bewundert, ahnt kaum, dass die ersten Versuche des Künstlers auf einem
anderen Gebiete lagen, auf einem Gebiete, wo er auch in der Folge noch
viel Hervorragendes leisten sollte. Ein „thronender Christus" war es,
der - wie Kopf in seinen Memoiren" später selbst gesteht - dem ganz
im Banne der Romantiker und der gothisch-deutschen Eindrücke befangenen
Mystiker zum Grundstein seiner Künstlerexistenz werden sollte und
auch wurde. „Sitzend dachte ich mir den Erlöser, mit der Weltkugel
in der Hand, die Rechte zum Segnen erhoben. Frei arbeitete ich nach
meiner Phantasie; auch keine Draperien legte ich mir und suchte das
Ganze ohne Modell fertig zu bringen. Es ging mir ziemlich schnell von
"' „Lebenserinnerungen eines Bildhauers von Professor Joseph von Kopf. Stuttgart 189g."
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