ZUR ENTSTEHUNG DES BIEDERMEIER-
STILES 54b VON A. SCHESTAG-WIEN Sie
IE Wohnungsausstattung wird seit jeher von zwei
Prinzipien beherrscht. Das eine Prinzip, das
eigentlich selbstverständliche und natürliche,
ist dadurch gekennzeichnet, dass alles, was
geschaffen wird, im Verhältnis und in Be-
ziehung zum Menschen sich befindet, dass der
Bewohner mit seinen Sitten und Gewohnheiten,
seiner Beschäftigung und seinen Liebhabereien
den Ausgangspunkt bildet, von dem ausgehend
sowohl die Behausung, als auch jedes Stück der
Inneneinrichtung seinem bestimmten Zwecke
gemäss seine notwendige Form erhält. Weder ästhetische noch künstlerische
Grundsätze kommen dabei in Frage, sondern nur das praktische Bedürfnis
entscheidet, wie ein Gegenstand gebildet werden soll, um dem Menschen
den grösstmöglichsten Nutzen zu bringen.
Als Beispiel für diese Art des Wohnhausbaues führe ich die Anlage
eines antiken Hauses an, wie es sich in Pompei erhalten findet. Gegen die
Strasse hat das Haus keine prächtige Fassade, es sind vorzüglich die Laden
der Kaufleute, die hier ihren Platz finden. Durch den Hausflur gelangt man
in das Vestibül, daran schliesst sich ein Empfangsraum und schliesslich
kommt man in das Atrium, von dem aus die Zugänge zu den einzelnen
Wohnräumen gehen, ein Grundplan, der sich von selbst aus der Art, wie
man zu leben gewöhnt war, ergab und der im Prinzipe eigentlich derselbe
ist wie bei unserem modernen englischen Wohnhause.
Als weiteres Beispiel führe ich die Burgen des Mittelalters, vor allem die
gotischen Burgen an, deren Plan und Aufbau nur durch die Notwendigkeit,
sich möglichst gut gegen den heranstürmenden Feind verteidigen zu können,
bedingt war. Die Mauern erhalten eine bestimmte Höhe, um nicht erklommen
werden zu können, der Turm muss die Möglichkeit bieten, von ihm aus
weithin das Land zu übersehen, die Form der Zinnen ergibt sich aus der
Art der Verteidigung. Die Fenster werden an der Stelle angebracht, die dem
Feinde am wenigsten zugänglich ist und die Räume in der Weise disponiert,
wie sie eben notwendig gebraucht werden; an Symmetrie kann daher natürlich
nicht gedacht werden. Wir haben ein anheimelndes, sicheres und angenehmes
Gefühl bei der Betrachtung eines solchen Bauwerkes, wir fühlen, dass es
seinen Zweck erfüllt, den Inwohnern eine sichere Stätte zu bieten.
Auch die Inneneinrichtung gibt uns dieses Bild. Die Möbel sind fest-
gefügt und an den Ort gestellt, an dem sie am besten benützt werden können.
Die Sitzmöbel in der Nähe des Ofens oder beim Fenster, das Bett in einer
Nische, die Truhen und Kasten, wo sie eben für den täglichen Gebrauch
am besten passten, das Metallgeschirr auf einer Kredenz in der Nähe des
35'