I
i
-t
HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN.
i.
DER FRIEDENSPALAST IN DEN HAAG.
D en Haag ist die modernste Stadt Hollands. Der spezifisch
holländische Charakter, der in den anderen Städten des
Landes vorherrscht, tritt hier unter der europäischen
Tünche zurück. Allerdings ist noch die imposante alte Burg
anlage der Grafen von Holland, des Grafengeheges ('s Graven-
hage oder den Haag) in den Hauptzügen vorhanden. Die
schöne Burggracht breitet den von Schwänen belebten, zwei
Hektar grossen Wasserspiegel an der Nordseite der Befestigung
aus, die anderen eingedempten Grachten, die den stattlichen
Binnenhof mit dem Rittersaal, der Hofkapelle, den Wohnun
gen der Dienst- und Kriegsmannen umgürteten, sind heute
noch an den Strassenzügen und ihren Namen nachweisbar.
Heute hat in der vielfach umgebauten Kastellanlage die Re
gierung ihren Sitz. Die Kammern tagen in dem Rittersaal,
einem der eigenartigsten gotischen Innenräume mit frei tragen
der Decke, die allerdings durch eine Restaurierung im Jahre
I86t auf das schändlichste zerstört und neuerdings seit 1896
unter Leitung des holländischen Stilarchitekten Cuijpers einer
sogenannten Wiederherstellung auf Grund alter Pläne unter
zogen wurde. Das Kastell ist die Urzelle der Stadt. Man muss
von hier ausgehen, um die Entwicklung der Stadt zu verfol
gen. Binnenhof und Buitenhof (Aussenhof), der anschliessende
Groenmarkt mit dem Stadthaus und der Grooten Kerk (Dom),
dem Gefangenenpoort im Westen, dem Wassergraben desVijver,
mit dem Vijverberg und seinen schönen Baumständen im
Norden, und dem Plein, einem herrlichen Baumplatz als Über
rest altholländischer Gärten im Westen, bilden die alte Burg
stadt und jetzige Regierungsstadt, um die das losere Gewand
der Bürgerstadt gelegt ist. Q
Die königliche Residenz brachte einen klassizistischen Einschlag
in das Architekturbild, das schlichte Huis Ten Bosch fügt sich
als Kronjuwel europäischer Fürstenkunst ein und in den
Hauptstrassen mit den vornehmen Verkaufsläden herrscht inter
nationaler Geschmack. Modernes Kunstgewerbe und insbeson
dere englische Manufaktur finden hier ein gutes Absatzgebiet.
Die Museen enthalten künstlerische Erlesenheiten. Niederlän
dische Kunst ist im Mauritshuis am Vijver zu Hause. Die edle
Pilasterarchitektur, eine Verbindung von Rohziegelbau und
Sandstein, ist aus dem Niederschlag italienischer Einflüsse auf
holländischen Baugeist entstanden. Paulus Potter und Rem-
brandt sind die Helden der Galerie. Die „Anatomie“ befindet
sich dort und seltene Werke des erst in neuerer Zeit zur vollen
Schätzung gelangten Delftschen Vermeer. Holbein zählt
unter den Schätzen. Im Stadtmuseum gibt die Sammlung
des feinen Haagschen Porzellans und der Bildersaal mit den
Schützen- und Magistratsbildern von Jan van Ravesteyn, dem
Lieblingsmaler der Haager Patrizier, einen intimeren Einblick
in die Lebensführung der alten Stadtgeschlechter. Eine fast
höfische Eleganz unterscheidet die Charakterbilder dieses Künst
lers von der derben nationalen Eigenart der Regentenbilder
seiner niederländischen Zeitgenossen. Das Mesdag-Museum ent
hält die fast einzige moderne Galerie des Landes. Die franzö
sischen Schulen des XIX. Jahrhunderts, besonders die grossen
Meister von Barbison, sind hier in selten gesehener Reich
haltigkeit vereinigt. □
Seit der Gründung der ostindischen Kompagnie geniesst den
Haag den Weltruf eines Ruhesitzes. Er ist die Solitüde der
in den Kolonien reich gewordenen Holländer und Erholungs
ort für die Offiziere der ostindischen Armee. □
Seit Jahrhunderten als Sitz diplomatischer Verhandlungen und
der seit J593 von Utrecht hieher verlegten Generalstaaten sowie
als königliche Residenz hat die Stadt einen eigentümlichen
internationalen Bevölkerungstypus entwickelt. In den Strassen
herrscht internationale Eleganz. Man begegnet Indiern, Fran
zosen, Engländern, die hier zu Hause sind. Sie bestimmen den
Aspekt. Der prachtvolle Baumweg, der nach Scheveningen
führt, ist eine Völkerstrasse, in der alle Idiome der Welt er
klingen. Hier ist der Platz für den aus den verschwenderischen
Mitteln der Carnegie-Stiftung zu erbauenden Friedenspalast ge
funden worden. □
Die Entwürfe des internationalen Wettbewerbes waren in den
Haag ausgestellt, über 3000 Zeichnungen. Trotz des quantita
tiven Auftretens konnte es nicht schwer sein, den vereinzelten
Versuch, die Lösung in der Sonderheit der Aufgabe zu suchen,
herauszufinden. Die Jury hatte ihre Aufgabe dadurch kompliziert,
dass sie nicht nach künstlerischen, sondern nach diplomatischen
Grundsätzen vorging. Es entfielen sonach die Preise auf Frankreich,
Amerika, Deutschland, und einem allzu unvermeidlichen künstleri
schen Zwang zufolge auch auf Österreich. Der erste Preis war
eine Reverenz vor der Ecole des Beaux-Arts, deren nichts
sagender Grösse bei allen internationalen Konkurrenzen die
schwersten Opfer gebracht werden. Es ist hohe Zeit, auch
diesen hohlen Götzen zu stürzen. Die Jury hat es dem Herrn
Cordonnier als hohes Verdienst angerechnet, dass er sich mit
Rücksicht auf Haag als Sitz des Schiedsgerichtes von der
niederländischen Architektur des XVI. Jahrhunderts inspirieren
liess. Es ist um so auffallender, dass holländische Künstler, die
stärker in der heimischen Eigenart schaffen, ohne ihre Vergan
genheit zu kopieren, im Wettbewerb leer ausgegangen sind.
Die Erbitterung ist gross, namentlich in der jüngeren heimi
schen Künstlerschaft. □
Es liegt bittere Ironie darin, dass schon am Anfang des
Friedensbaues, trotz aller Diplomatie, kein Teil zufrieden ist.
Es wiederholt sich die alte Lehre, dass künstlerische Fragen
nicht diplomatisch, sondern künstlerisch entschieden werden sollen.
Es darf ausserdem den niederländischen Künstlern, und nament
lich Herrn Cordonniers Projekt gegenüber, das holländischer
als die Holländer sein will, nicht vergessen werden, dass der
Friedenspalast der internationalen Idee dient und mit dem
Wesen der holländischen Baukunst nichts zu tun hat. Hat sich
doch selbst den Haag zum internationalen Stadt-Typus ausge
wachsen. Der aufmerksame Vergleich unter der ungeheuren
Menge von Entwürfen lieferte den allerdings nicht über
raschenden Beweis, dass die hervorragende Architektenschaft
aller Welt nicht imstande ist, diese allgemeine moderne Idee in
einem baukünstlerischen Organismus auszudrücken, der kein
Kompromiss enthält. Vielleicht liegt es daran, dass die ganze
Friedensidee eine Idee des Kompromisses ist. Die Internatio
nalität bedingt es. Keinesfalls aber ist die Anleihe bei Stil
motiven der Vergangenheit anders auszulegen, als durch künst-
ÄPPPI
307