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Barockkunst mündete, in der „zweiten Barocke" endigte, liegt der Wettstreit
der beiden großen Kulturideale des Westens. Der hellenistisch abgeklärte,
streng korrekte Zopf war als Reaktion auf die verweichlichte Sittenlosig-
keit und Formenwillkür des Rokoko wohl eine Zeit hindurch wohltuend.
Aber so fremd die „griechische Mode" unserem Klima, unseren Lebens-
gewohnheiten und Sitten war, so fern lag auch die abgemessene Steifheit
des Zopfes dem heranwachsenden erstarkenden Bürgertum. Die Lessing-
Goethesche Schönheitslehre wurde von der Romantik abgelöst. Nicht zufällig
wirkten die gotisieren-
den, naturalistischen
Experimente dabei
mit, die wohl auch im
äußerlichen Formen-
spiel stecken blieben,
aber immerhin doch
im romantisch-na-
turalistischen Land-
schaftsgarten und
Park eine eigentüm-
liche Leistung zu-
stande brachten, die
eine lange Nachwir-
kung haben sollte.
Diesesunbeküm-
merte Vordringen der
Phantasie, der freien,
fessellosen Gestal-
tungskraft hat allmäh-
lich auch im Reiche
Entwurf einer Fensterwand des Mobilars Stattge-
aus dem „Magazin für Freunde des guten Geschmacks", Leipzig (die Fxies- fundgfL E5 hat zuerst
ornameme auf blauem, die Pfeilerornameme auf rotem Grund) griechisch_römi_
sche Verkleidung abgestreift und endlich auch die Formenstrenge über-
wunden.
Die beste Zeit des Biedermeiermöbels bewahrt noch jenen Sinn für Ein-
fachheit und Klarheit der Gestaltungsweise, der ein Erbteil der klassizistischen
Bewegung war, ohne dessen Äußerlichkeiten festzuhalten, Anderseits wirkte
aber das romantisch-phantasievolle Gestalten, das in der Barockzeit so ge-
waltig hervortrat, immer noch nach; diese Nachwirkung steigerte sich immer
mehr. So paradox es klingen mag, man ist versucht, die Biedermeierzeit und
für unseren Fall die Gestaltungsweise ihres Mobilars als eine Versöhnung,
eine Verbindung und einen Ausgleich zwischen dem I-Iellenismus und
dem Romantizismus, zwischen Gesetzmäßigkeit und Phantasie, zwischen
Griechentum und Barocke zu halten.