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Urformen in ihren, durch die Eigenthümlichkeiten der Völker und Länder
bedingten Verschiedenheiten kennen zu lernen, wird man sich stets mit
Erfolg an die Erzeugnisse der Töpfer wenden. Betrachten wir die Thon-
waaren gemeinster Sorte, wie sie im Orient, in Indien, in China, in Afrika
und Mexiko und in Europa. zu verschiedenen Zeiten unter dem Einflüsse
verschiedener Culturströniungen gemacht wurden und werden, so eröffnen
sich uns zuweilen aus ihnen Gesichtspunkte, die uns tief in das eigent-
liche Verständniss der Knnstformen eindringen lassen. Von hier aus
werden wir vielleicht sehen, dass der Knnstforschnng, die sich his-
her beinahe lediglich beschreihend verhielt, noch ein weites Feld der
Thätigkeit oifen steht, wenn sie von der Beschäftigung mit den vollen-
detsten Productcn herabsteigend, - wie die Sprachforschung im Volks-
dialekt, - in der nationaleigenthümlichen Geräthbildnerei oft die Erklärung
finden wird zu kunstgeschichtlichen Erscheinungen, die wir ',bis heute
als vollendete Thatsachen hinzunehmen gewohnt sind, durchaus aber nicht
auf ihre Gründe zurückführen können, was ja doch schliesslich das Ziel
jeder wirklichen Wissenschaft sein muss. Hiernach wird mich der Leser
vielleicht verstehen, wenn ich der Keramik mehr wissenschaftliche Wich-
tigkeit beilege als dies gemeinhin, - mit Ausnahme der antiken Tlmn-
bildnerei Italiens und Griechenlands - geschieht. Freilich werden sich die
Früchte, die ein solches Eingehen auf diese für gewöhnlich etwas seitab
liegenden Themata für die Erkenntniss der Kunstbewegnng trägt, nicht
sofort pflücken lassen, klar ist es aber, dass die Kunst nicht hlos in den
monumentalen Schöpfungen lebt, und wer das Ganze übersehen will,
nicht die vor allen hervorragenden Spitzen allein betrachten darf. wie
sehr das Studium unscheinharer Thonscherben geeignet sein kann, uns
ein Bild von dem Urzustande der griechischen Kunst zu geben, hat un-
längst Conze in einer vortrefflichen Arbeit klargelegt "). Diese fossilen
Reste menschlichen Schadens ähneln den versteinerten Spuren unter-
gegangeuer Gebilde der Natur nicht nur insofern, dass sie uns die hi-
storische Kenntniss des Entwicklungsganges übermitteln, sondern auch
darin, dass sie durch verloren gegangene Formen, die sie aufbewahren,
uns in die Lage versetzen, ein vollständiges und lückenloses Bild
der gesamniten Kunstbcwcgung zu entwerfen. Ich meine , dass die
sogenannten handwerklichen Künste uns oft ein naturgexnässes Fort-i
schreiten noch da. erkennen lassen, wo wir in der Kunst einen rälhsel-
haften Sprung sehen. Man ist gewöhnlich sehr geneigt, eben diese hand-
werklichen Künste in gänzlicher Abhängigkeit von der Kunst, die
hleisterleistungen schafft, zu denken, während die Einflussnahme in um-
gekehrter Richtung natürlich und völlig evident ist, da die Aensserungen
auch des grössten Genie's lediglich bestimmt werden durch die Eindrücke,
Ü Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst. Wien 1870.