Zur Geschichte der Spitzenindustrie.
Die gegenwärtig im Saale IV des Oesterr. Museums zum Theil
ausgestellte Sammlung von Spitzen, Kanten und Nadelarbeiten aus dem
15. bis 19. Jahrhundert, vordem im Besitze des Canonicus Dr. Fr. Bock
zu Aachen und nun vom Museum erworben, bildet einen sehr ansehn-
lichen Theil unserer textilen Sammlung und hat allen Anspruch darauf,
von Seiten des Publicums sowie der Fachleute, des Culturhistorikers,
Geschichtsmalers und Zeichners für die betreffenden kunstindustriellen
Gebiete einer aufmerksamen Beachtung gewürdigt zu werden. Zum besseren
Verständnisse des Gegenstandes hat Herr Canonicus Dr. Bock seinem
demnächst erscheinenden Kataloge der Collection eine historische Einlei-
tung vorausgeschickt unter dem Titel: "Zur Geschichte der Spitzenindu-
striea, welche wir hier im Nachstehenden veröffentlichen.
vBei Ansammlung der Materialien zur Herausgabe der Geschichte
der Seidenfabrication und der Stickerei, welche besondere Lieferungen
eines grösseren Werkes') bilden, wurde mir häufig Gelegenheit geboten,
vergleichende Nachforschungen anzustellen, wie noch vor dem Eintritt der
Renaissance die durchbrochenen, djour gewirkten Weisszeugarbeiten nach
und nach zu einer selbstständigen Kunstindustrie sich entwickelt und
gestaltet haben. Nach Vollendung des in der Anmerkung gedachten Werkes
war ich in der günstigen Lage, mein Augenmerk ausschliesslich diesem
auch in technischer Beziehung höchst interessanten Entwickelungsgange
von durchbrochenen Weisszeugarbeiten und der sich daraus entwickelnden
Spitzenfabrication zuwenden zu können, wie sich dieselbe sowohl für kirch-
liche als auch für profane Zwecke erst in neuerer Zeit gestaltet hat. lns-
besondere bot mir ein längeres Verweilen in den verschiedenen Ländern
diesseits und jenseits d-er Alpen und namentlich in den ehemaligen Indu-
striestädten der Spitzen und Kanten erwünschte Gelegenheit, in den letz-
ten zehn Jahren eine möglichst vollständige wissenschaftlich geordnete
Sammlung von sämmtlichen seit der ersten Hälfte des XVI. bis zum
Schlusse des XVIII. Jahrh. gearbeiteten Arten der durchbrochenen und
filochirten Arbeiten, sowie der verschiedenen sowohl mit der Nadel gewirk-
ten, als auch auf dem Kissen geklöppelten Spitzen und Kanten in einem
solchen Umfange anzulegen, dass bei weitem die meisten Städte und Län-
der, die sich auf dern ausgedehnten Gebiete der Spitzenindustrie hervor-
gethan haben, darin in reichhaltigster Abwechslung der Musterungen und
der Technik vertreten sind. Bevor in Folgendem die verschiedenen Grup-
pen und Abarten der Spitzen und Kanten unserer Sammlung, je nach
ihrer besondern Technik und je nach ihren für die Districte ihrer An-
') Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters oder Entstehung und Ent-
wickelung der kirchlichen Ornate und Paramente in Rücksicht auf Stoß, Gewebe, Farbe,
Zeichnung, Schnitt und rituelle Bedeutung nachgewiesen und durch zahlreiche Abbildungen
in Farbendruck erläutert von Dr. Fr. Bock. l., ll. und lll. Bd. Bonn, Max Cohen d: Co.