Die gegenwärtigen Aufgaben der Verwaltung des artistischen Bildungswesens. IX
Diese gilt von der Production selbst kaum minder als von der Schule.
Während letztere ein gesteigertes Streben erkennen liess, ihren Einfluss auf den
gewerblichen Na chwu chs zugleich zu erweitern und zu vertiefen, zeigte erstere
auch das heutige gewerhetreibende Geschlecht schon vielfach jenem einst
so mächtigen Vorurtheil entwachsen, dass geschäftliche und künstlerische Erfolge
sich gegenseitig ausschliesscn und dass die Beachtung der Grundlehren des Styls
die Ahsatzfähigkeit industrieller Erzeugnisse schädigt. Dass diese Bekehrung der
Producenten bereits in so zahlreichen Fallen zu practischem Ausdruck gelangen
konnte, setzt aber voraus, dass auch das Auge des kaufenden Publicums kaum
minder als das des schaffenden Arbeiters in letzter Zeit erfolgreich gebildet wurde.
Halt man diese auf der Münchner Ausstellung hervorgetretenen Erscheinungen
zusammen mit den Thatsachen einer rührigen literarischen Agitation der Gelehrten
und Kuustfreunde, eines hingebungsvollen Bemühens der Künstler, Industriellen
und Schulml-nner, sowie einer eifrigen Wirksamkeit der Höfe, Regierungen,
Gemeinden und Corporationen, so kann kein Zweifel mehr darüber walten, dass
gegenwartig in der Reform des deutschen Kunst- und (iewerbewesens eine mächtige
Strömung des nationalen "Lebens sich ihr tiefstes Bett zu schaden sucht. So spärlich
seit der Mitte der sechziger Jahre dem deutschen Boden entsickert, so langsam in
Fluss gebracht und nun scheinbar plötzlich zu solcher Macht geschvvellt, fordert
diese Strömung die Nachbarländer umso mehr zu sorgsamer Beachtung auf, als
ihr allmäliges. aber stetiges Anwachsen während eines Jahrzehnts die Annahme
ausschlicsst, es ziehe da nur ein rasch wechselndes, geschichtliches Wandelhild
dem Blicke der Zeitgenossen vorüber.
Die Geschmncksreforixi ist in Deutschlund zum culturgeschichtlichvn Moment
geworden. Sie ist bereits lebendige Thatsache, eine Thatsache, die sich von nun an
geltend machen wird in Mitteleuropa. Ihr darf ein Staat am wenigsten die
Augen verschliessen, dessen Gewerbe- und Kunstiieiss bisher ehrenvoll mit dem
deutschen rivalisirt und im Wettstreit manchen Siegespreis errungen hat. Dcsshalh
fühlt die österreichische [lnterrichtsverwaltung sich zu dem Nachweise verpflichtet,
dass diese Vorgänge im Nachbarreiche ernste Würdigung vom staatspadagngischon
Standpuncte aus verdienen. Und zwar desto ernstere Würdigung, je zahlreichere
Anzeichen vorliegen, dass diese Culturpolitik der deutschen Staaten in der Frage
des kunstgewerblichen Bildungswesens nachgerade manch doctrinare Auffassung
aufgibt, die sich bisher unfruchtbar erwiesen, und dass sie Bahnen nunmehr
entschiedener betritt, auf denen England und Österreich in den letztvertlossenen
Decennien mit Erfolg vorgegangen.
Wiewol nämlich die Knnstliteratnr schon seit Längerem bemüht war, in der
kunstgewerblichen Frage das Verstänclniss zu erleichtern, Begriffe zu ordnen,
Richtpuucte zu geben, so hatte doch die Erzielung dnrchgreifender Practischer
Ergebnisse sich verzögert. Wol hauptsächlich in Folge der Unsicherheit der vielen
bleibend dimm)" 59511 Wird-u (Leäßillg: "Das Kunstgewerbe auf der Wiener-Welt-
ansstellungfÜ
Die Münchener-Ausstellung linfem bereits den Beweis, dass die zu Wien gemachten,
bitteren Erfahrungen in der Tha: nicht ohne Wirkung auf Deutschlands Strebungeu geblieben sind.