lebige Raphael entgegen wie ein heiterer Frühlingstag dem langen Winter,
wie ein warmer, milder Sonnenblick auf liebliches Hügelland dem gran-
diosen Aufruhr der Elemente während eines Gewitters im Hochgebirge.
Schier mühelos scheint Raphael zu schaffen, ohne Rast, aber ohne Er-
müdung, von allen Seiten Schönes in sich aufnehrnend und zu Schönerem
und Schönstem gestaltend. Zwar sind wir heute zurückgekommen von
der abgöttischen Raphael-Verehrung der Zwanziger und Dreißiger Jahre,
doch fehlt es aüch heute nicht an Stimmen, welche den Höhepunkt aller
Malerei in RaphaeYs reifen Werken erblicken.
Den großen Raphael also zu ehren, sind wir heute versammelt.
Wir feiern heute den vierhundertsten Jahrestag seiner Geburt. Warum
aber gerade heute, erst heute am 6. April? Warum geschah dies nicht
schon am 28. März, wie man es in Italien und in Frankreich gehalten
hat? Dieses ist eine Frage, welche hier zu erörtern nicht umgangen
werden kann.
Vom ästhetischen Standpunkte aus betrachtet, kann Nichts gleich-
giltiger sein als die präcise Feststellung des Geburts-Datum eines Künstlers.
Wenn der Aesthetiker über den Zeitpunkt der Entstehung wichtiger un-
zweifelhaft echter Werke unterrichtet ist und weiß, wie alt ungefähr der
Künstler damals war, als er diese Werke schuf, so mag ihm das genügen.
Anders für den kritischen Forscher, anders auch für Denjenigen, der eine
Biographie oder auch nur einen kurzen Lebensabriss eines Künstlers geben
will, wie ich letzteres bezüglich RaphaePs heute zu geben beabsichtige
und wie es sich zur Erinnerung an den großen Todten an diesem Orte
wohl geziemt. Da muss man doch, sollte ich meinen, gleich den Anfang
mit Genauigkeit behandeln.
Dass sich die Frage nach Raphael's Geburtstag nicht so leicht und
so rasch, wohl auch nicht mit unbedingter Gewissheit beantworten lässt,
ist Ursache davon geworden, dass man in der Literatur eine Reihe
dilferenter Angaben zu lesen bekommt. ln manchen modernen Raphael-
Biographien, bei Ant. Springer und Eug. Muntz, finden wir den 28. März
als Geburts-Datum. Andere Kunsthistoriker dagegen, wie Moriz Thausing
im lll. Bd. des Rep. f. Kunstw. und vor Kurzem in einem Feuilleton der
"Deutschen Zeitungu, endlich in neuester Zeit auch Herrn. Grimm in der
nNational-Zeitungß vom 25. Februar laufenden Jahres haben sich mit aller
Bestimmtheit für den 6. April ausgesprochen. '_
Ueberblicken wir rasch die wichtigste Literatur, welche sich mit dem
grossen Maler beschäftigt, und suchen wir aus derselben die nöthigen An-
haltspunkte heraus für die Beantwortung der Frage nach Raphael's rich-
tigem Geburtstage. In der ältesten Raphael-Biographie von Paolo Giovio
Enden wir Nichts, das auf unseren Gegenstand Bezug hätte. Auf Vasari's
hochwichtige Angaben werde ich gleich zu sprechen kommen. Unter der
späteren Literatur will ich als bedeutend hervorheben: Pungileoni, der
viel trelfliches Material zum Leben des berühmten Urbinaten und besonders