GRIECHISCHE
PERIPETIE
Von GUSTAV FESTENBERG
Nichts ist lehrreicher, als alte Stiche oder Photographien von
Schauspielern in ihren Glanzrollen, etwa der Schröter oder Jage-
mann als Iphigenie und Eurydikc, der Wolter als Medca anzu-
sehen. Alle tragen griechische Gewänder, mit Meandern verziert,
Lorbeer im gelösten Haar, Sandalen an den Füßen, und vermei-
nen, nicht nur im Geist, sondern auch in der Tracht dem gemim-
ten Urbild völlig zu entsprechen. Und doch sieht der Beschauer
auf den ersten Blick, aus welchem jahrhundert, aus welchem
Jahrzehnt die Kostüme stammen. Es ist der Zeitgeist, mächtiger
als jeder nachempfundene Stil, der dem antik-historischen Ko-
stüm seine Note aufprägt.
Diese Beobachtung fiel mir ein, als ich nach Griechenland kam.
Mit mehr als einem inneren Vorbehalt hatte ich die Reise ange-
treten. Angst, enttäuscht zu werden, ein Gefühl, wie wenn
Griechenland, die griechische Antike außer Mode wäre, wie wenn
sie nicht in unsere Zeit paßte, in der alles Spannung, Gegensatz
ist, bedrückte mich. Wir leben in der Septime. Aber wünschen
wir in die Oktave aufzusteigen (hinabzustürzen), die Spannung
aufzulösen? Ich hatte Angst vor der Harmonie, vor dem, was
man im klassischen Sinn Schönheit nennt. Vor fünfzig jahren
war das noch anders. Die Welt war ausgeglichen, das Dasein
gesichert. Morgen, übermorgen waren wie gestern und vorge-
stern. Die griechische Kunst (Phidias, Praxiteles) war die Voll-
endung dessen, was wir als das Richtige, Natürliche empfanden,
an dem wir (wenn auch nur in bescheidenstcm Ausmaß) selbst
teilhatten. Aber heute?
Es war eine glückliche Fügung, die mich schon in der ersten
Woche meines Aufenthaltes in Athen mit General V. zusammen-
führte, der, nicht weniger Patriot als Kenner der Vergangenheit
und Entwicklung seines Vaterlandes, es sich angelegen sein ließ,
meine Zweifel teils zu zerstreuen, teils zu bekräftigen. „Ver-
gessen Sie", sagte er mir auf einem unserer Spazicrgänge, „was
Sie gelernt haben. Vergessen Sie Winckclmann, Goethe, Byron,
Hölderlin, all den Gefühlsüberschwang, dem die kühlen nordi-
schen Völker so leicht verfallen. Nichts davon stimmt auf Hellas.
Nehmen Sie nur ein Beispiel: die Asphodele. Was stellen Sie
sich darunter vor?" Ich zögerte nicht, zu sagen, daß es eine Art
Wunderblume, halb Nachtschatten, halb Tubcrose, vielleicht mit
einem orchideenartigen Einschlag sein müsse. War es doch die
Blume der Unterwelt, die einzige, von der in der Mythologie
die Rede war (denn Wein und Lorbeer, Olbaum und Akanthus
waren Gewächse der sonnebeschienenen Erde). „Und wissen Sie,
wie sie in Wirklichkeit aussieht?" lächelte der General, bückte
sich an den Wegrand und hielt mir ein Kraut mit harten stei-
fen Stengeln, spärlichen kleinen Blättern und schmutzigweißen,
unansehnlichen Blüten entgegen. „Das ist sie, die vielbesungene
Blume der Unterwelt, ohne Farbe, ohne Duft, ohne Schönheit,
ohne Licblichkeit, eben gerade gut genug für das Reich der
Schatten, für die Abgeschiedenen, für die Toten. Denn, sehen
Sie, für den Griechen war das Leben, das Auf-der-Erde-sein alles;
realistisch wie er war und ist, gab er sich nicht mit der An-
weisung auf eine Bank zufrieden, von deren Bestand er keinen
Beweis hatte. Daß er nicht an ein himmlisches Leben im Kreis
der Götter glaubte, wo alles eitel Freude und Seligkeit ist, be-I
wirkte, daß er um so inbrünstiger lebte, daß er in allem das
Einmalige, Unwiederbringliche, Unabänderbare empfand. Für ihn
gab es keine andere Gelegenheit zur Sühne als im Leben selbst
und so erklärt sich auch der Charakter dessen, was er Schick-
sal nennt, und dessen, was ihm tragisch erscheint."
Einige Tage später traf ich den General wieder. Ich war gerade
im Nationalmuscum gewesen. „Was hat Ihnen den stärksten
Eindruck gemacht?" wollte er wissen. „Die kleine Plakette mit
dem Kentaur." „Und warum?" fragte er, wie der Lehrer seinen
Schüler fragt. „Sie kennen sie doch?" gab ich zurück. „Ich
meine die Abbildung aus dem 6. Jahrhundert v. Chn, auf der.
ein Pferdemensch dargestellt ist; aber er trägt noch nicht vier
Hufe an den vier Beinen; er ist ein richtiger Mensch mit Men-
schenfüßen, an dessen Rücken Kruppe und Hinterhand eines
Pferdes angewachsen sind." Der General lächelte. „Und was hat
Ihnen daran einen solchen Eindruck gemacht?" „Daß man hier
einen Blick in die Entwicklungsgeschichte der Fabel- und Phan-
tasiewesen tut; man sieht daraus, daß all diese Harpyien, Satyrn,
mit einem Wort die Mischwcsen, nicht fix und fertig dem
menschlichen Hirn entsprungen sind, dnß..." „Aber wer sagt
Ihnen", unterbrach mich der General, „daß sie überhaupt dem,
menschlichen Hirn cntsprangen, daß sie - wie Sie sich auszu-
drücken belieben - Phantasiewesen sind? Merken Sie sich eines:
die Phantasie ist eine der wenigst ausgebildeten Fähigkeiten des
Menschen, wenn sie überhaupt eine ist. Was wir Phantasie nen-
nen, ist die Ahnung vergessener Wirklichkeit. All diese Fabel-
wesen haben wirklich existiert, nicht physisch, aber im Geist.
Das Verdienst der Alten war es, ihnen den zu ihrem Wesen
passenden Leib zu geben. - Das Christentum hat es sich zwei-
tausend jahre lang angclcgen sein lassen, das Menschliche vom
Göttlichen einerseits, vom Ticrischen andererseits zu scheiden.
Aber hier in Griechenland rauscht bis zum heutigen Tag vom
Stein zur Pflanze, von der Pflanze zum 'l'ier, vom Tier zum
Menschen, vom Menschen zu den ewig lebendigen Göttern und
zurück zum Unbelebten ein geheimnisvoller Strom; darum war
es den Göttern so leicht, sich zu verwandeln, ja, diese Fähigkeit
in besonderen Fällen selbst Sterblichen zuteil werden zu lassen.
Sie herrschten nicht in einem wesenlosen Himmel, auf den Höhen
der Erde (dem Olymp, dem Parnafl) hatten sie ihre Wohnstatt,
von dort mischten sie sich unter das Mcnschcngeschlerht; sie
nahmen seine Gestalt an, sie entbrannten in Liebe zu ihm, sie
haßten es, sie schlossen Verträge mit ihm ab und brachen sie.
Nektar und Ambrosia waren ihre Kost, Unsterblichkeit ihr Teil.
Aber auch sie waren dem Schicksal unterworfen. Und sie ent-
behrten der Fülle des Lebens, der wunderbaren Erfahrung durch
Leid. Die Satyrn und Kcntauren wieder warben um den Men-
schen, und aus den Quellen und der rissigen Rinde der Bäume
schauten Najaden und Dryaden mit neugierig verlangenden
Augen seinem Beginnen zu, jederzeit bereit, sich ihm in Liebe
oder Spiel zu gesellen. So stand der Mensch in der Mitte der
Schöpfung, nach allen Seiten hin streckte er die Arme aus, das
Benachbarte zu berühren, zu begrüßen, zu begreifen. Wenn es
des Abends an sein Tor klopfte, war er nicht sicher, ob ein
Irdischer oder Überirdischer es war, der Einlaß begehrte. (Seine
Gastfreundlichkeit hatte nicht zuletzt Wurzel und Antrieb in
dieser Ungewißheit.) Klirrtc des Nachts der Sturm ums Haus,
wer konnte sagen, ob es nicht eine Herde Kentauren war, die
flüchtigen Hufs vorüberbrauste? Und was dem Ohr wie das
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