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Volltext: Alte und Moderne Kunst I (1956 / Heft 4)

GRIECHISCHE 
PERIPETIE 
Von GUSTAV FESTENBERG 
Nichts ist lehrreicher, als alte Stiche oder Photographien von 
Schauspielern in ihren Glanzrollen, etwa der Schröter oder Jage- 
mann als Iphigenie und Eurydikc, der Wolter als Medca anzu- 
sehen. Alle tragen griechische Gewänder, mit Meandern verziert, 
Lorbeer im gelösten Haar, Sandalen an den Füßen, und vermei- 
nen, nicht nur im Geist, sondern auch in der Tracht dem gemim- 
ten Urbild völlig zu entsprechen. Und doch sieht der Beschauer 
auf den ersten Blick, aus welchem jahrhundert, aus welchem 
Jahrzehnt die Kostüme stammen. Es ist der Zeitgeist, mächtiger 
als jeder nachempfundene Stil, der dem antik-historischen Ko- 
stüm seine Note aufprägt. 
Diese Beobachtung fiel mir ein, als ich nach Griechenland kam. 
Mit mehr als einem inneren Vorbehalt hatte ich die Reise ange- 
treten. Angst, enttäuscht zu werden, ein Gefühl, wie wenn 
Griechenland, die griechische Antike außer Mode wäre, wie wenn 
sie nicht in unsere Zeit paßte, in der alles Spannung, Gegensatz 
ist, bedrückte mich. Wir leben in der Septime. Aber wünschen 
wir in die Oktave aufzusteigen (hinabzustürzen), die Spannung 
aufzulösen? Ich hatte Angst vor der Harmonie, vor dem, was 
man im klassischen Sinn Schönheit nennt. Vor fünfzig jahren 
war das noch anders. Die Welt war ausgeglichen, das Dasein 
gesichert. Morgen, übermorgen waren wie gestern und vorge- 
stern. Die griechische Kunst (Phidias, Praxiteles) war die Voll- 
endung dessen, was wir als das Richtige, Natürliche empfanden, 
an dem wir (wenn auch nur in bescheidenstcm Ausmaß) selbst 
teilhatten. Aber heute? 
Es war eine glückliche Fügung, die mich schon in der ersten 
Woche meines Aufenthaltes in Athen mit General V. zusammen- 
führte, der, nicht weniger Patriot als Kenner der Vergangenheit 
und Entwicklung seines Vaterlandes, es sich angelegen sein ließ, 
meine Zweifel teils zu zerstreuen, teils zu bekräftigen. „Ver- 
gessen Sie", sagte er mir auf einem unserer Spazicrgänge, „was 
Sie gelernt haben. Vergessen Sie Winckclmann, Goethe, Byron, 
Hölderlin, all den Gefühlsüberschwang, dem die kühlen nordi- 
schen Völker so leicht verfallen. Nichts davon stimmt auf Hellas. 
Nehmen Sie nur ein Beispiel: die Asphodele. Was stellen Sie 
sich darunter vor?" Ich zögerte nicht, zu sagen, daß es eine Art 
Wunderblume, halb Nachtschatten, halb Tubcrose, vielleicht mit 
einem orchideenartigen Einschlag sein müsse. War es doch die 
Blume der Unterwelt, die einzige, von der in der Mythologie 
die Rede war (denn Wein und Lorbeer, Olbaum und Akanthus 
waren Gewächse der sonnebeschienenen Erde). „Und wissen Sie, 
wie sie in Wirklichkeit aussieht?" lächelte der General, bückte 
sich an den Wegrand und hielt mir ein Kraut mit harten stei- 
fen Stengeln, spärlichen kleinen Blättern und schmutzigweißen, 
unansehnlichen Blüten entgegen. „Das ist sie, die vielbesungene 
Blume der Unterwelt, ohne Farbe, ohne Duft, ohne Schönheit, 
ohne Licblichkeit, eben gerade gut genug für das Reich der 
Schatten, für die Abgeschiedenen, für die Toten. Denn, sehen 
Sie, für den Griechen war das Leben, das Auf-der-Erde-sein alles; 
realistisch wie er war und ist, gab er sich nicht mit der An- 
weisung auf eine Bank zufrieden, von deren Bestand er keinen 
Beweis hatte. Daß er nicht an ein himmlisches Leben im Kreis 
der Götter glaubte, wo alles eitel Freude und Seligkeit ist, be-I 
wirkte, daß er um so inbrünstiger lebte, daß er in allem das 
Einmalige, Unwiederbringliche, Unabänderbare empfand. Für ihn 
gab es keine andere Gelegenheit zur Sühne als im Leben selbst 
und so erklärt sich auch der Charakter dessen, was er Schick- 
sal nennt, und dessen, was ihm tragisch erscheint." 
Einige Tage später traf ich den General wieder. Ich war gerade 
im Nationalmuscum gewesen. „Was hat Ihnen den stärksten 
Eindruck gemacht?" wollte er wissen. „Die kleine Plakette mit 
dem Kentaur." „Und warum?" fragte er, wie der Lehrer seinen 
Schüler fragt. „Sie kennen sie doch?" gab ich zurück. „Ich 
meine die Abbildung aus dem 6. Jahrhundert v. Chn, auf der. 
ein Pferdemensch dargestellt ist; aber er trägt noch nicht vier 
Hufe an den vier Beinen; er ist ein richtiger Mensch mit Men- 
schenfüßen, an dessen Rücken Kruppe und Hinterhand eines 
Pferdes angewachsen sind." Der General lächelte. „Und was hat 
Ihnen daran einen solchen Eindruck gemacht?" „Daß man hier 
einen Blick in die Entwicklungsgeschichte der Fabel- und Phan- 
tasiewesen tut; man sieht daraus, daß all diese Harpyien, Satyrn, 
mit einem Wort die Mischwcsen, nicht fix und fertig dem 
menschlichen Hirn entsprungen sind, dnß..." „Aber wer sagt 
Ihnen", unterbrach mich der General, „daß sie überhaupt dem, 
menschlichen Hirn cntsprangen, daß sie - wie Sie sich auszu- 
drücken belieben - Phantasiewesen sind? Merken Sie sich eines: 
die Phantasie ist eine der wenigst ausgebildeten Fähigkeiten des 
Menschen, wenn sie überhaupt eine ist. Was wir Phantasie nen- 
nen, ist die Ahnung vergessener Wirklichkeit. All diese Fabel- 
wesen haben wirklich existiert, nicht physisch, aber im Geist. 
Das Verdienst der Alten war es, ihnen den zu ihrem Wesen 
passenden Leib zu geben. - Das Christentum hat es sich zwei- 
tausend jahre lang angclcgen sein lassen, das Menschliche vom 
Göttlichen einerseits, vom Ticrischen andererseits zu scheiden. 
Aber hier in Griechenland rauscht bis zum heutigen Tag vom 
Stein zur Pflanze, von der Pflanze zum 'l'ier, vom Tier zum 
Menschen, vom Menschen zu den ewig lebendigen Göttern und 
zurück zum Unbelebten ein geheimnisvoller Strom; darum war 
es den Göttern so leicht, sich zu verwandeln, ja, diese Fähigkeit 
in besonderen Fällen selbst Sterblichen zuteil werden zu lassen. 
Sie herrschten nicht in einem wesenlosen Himmel, auf den Höhen 
der Erde (dem Olymp, dem Parnafl) hatten sie ihre Wohnstatt, 
von dort mischten sie sich unter das Mcnschcngeschlerht; sie 
nahmen seine Gestalt an, sie entbrannten in Liebe zu ihm, sie 
haßten es, sie schlossen Verträge mit ihm ab und brachen sie. 
Nektar und Ambrosia waren ihre Kost, Unsterblichkeit ihr Teil. 
Aber auch sie waren dem Schicksal unterworfen. Und sie ent- 
behrten der Fülle des Lebens, der wunderbaren Erfahrung durch 
Leid. Die Satyrn und Kcntauren wieder warben um den Men- 
schen, und aus den Quellen und der rissigen Rinde der Bäume 
schauten Najaden und Dryaden mit neugierig verlangenden 
Augen seinem Beginnen zu, jederzeit bereit, sich ihm in Liebe 
oder Spiel zu gesellen. So stand der Mensch in der Mitte der 
Schöpfung, nach allen Seiten hin streckte er die Arme aus, das 
Benachbarte zu berühren, zu begrüßen, zu begreifen. Wenn es 
des Abends an sein Tor klopfte, war er nicht sicher, ob ein 
Irdischer oder Überirdischer es war, der Einlaß begehrte. (Seine 
Gastfreundlichkeit hatte nicht zuletzt Wurzel und Antrieb in 
dieser Ungewißheit.) Klirrtc des Nachts der Sturm ums Haus, 
wer konnte sagen, ob es nicht eine Herde Kentauren war, die 
flüchtigen Hufs vorüberbrauste? Und was dem Ohr wie das 
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