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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 8)

Das Poetische in der Kunst 
Lob des Vergänglichen 
WIELAND SCHMIED 
Das Poetische ist nicht allein eine Sache der Literatur 
und nicht primär an die Sprache gebunden; vielfältig 
kann es sich in den Künsten manifestieren. Es gibt" 
Dichter, die alles eher zu sein scheinen als Poeten, viel- 
leicht Forscher. vielleicht Philosophen; und es gibt Ma- 
ler, deren Bilder sehr poetisch sind. In einem Grenlz- 
bereich zwischen Malerei und Dichtung scheint die 
Poesie zu Hause zu sein. 
So nüchtern und exakt die moderne Dichtung zu sein 
strebt - einige der schönsten Gedichte unserer Zeit. 
sind reine Poesie. Wenn Gareia Lorca vom bärtigen 
Fluß Guadalquivir spricht oder Dylan Thomas sich Prinz 
der Apfelstädte nennt, finden wir uns plötzlich ver- 
zaubert inmitten der Bilderfülle einer poetischen Welt. 
Es sind vor allem Dichter, in deren Sprache die Bild- 
kraft die gedankliche Aussage und die Musikalität über- 
wiegt, dic uns poetisch berühren. In der Malerei wieder 
sind es die großen Einzelgänger unseres Jahrhunderts, 
die nicht der Haupllinic der reinen (d. h. von Elementen 
der anderen Künste ,.gereinigten"), abstrakten oder kon- 
struktiven Malerei fulgen, die wir als Poeten des Pinsels 
und der Palette empfinden: Paul Klee. Lyonel Feininger, 
Franz Marc, August Macke, Marc Chagall, Maurice 
Utrillo. Das Poetische wird hier in der Beziehung der 
(bei Klee nur geahnten, bei Chagall schwerelosen, bei 
Feininger kristallinischen) Gegenständlichkeit zu den 
Farben sichtbar. Poetische Gemälde fallen einem auf 
Anhieb viele ein; Beispiele poetischer Graphik zu nennen, 
ist schwieriger. 
Was ist nun das Poetische, das sich in der Kunst und 
durch sie ausspricht? r 
Zum ersten Male ahnte ich das Wesen des Poelischen 
 
im Anschauen einer attischen Amphorc im archäologi- 
schen Museum in Athen. Zweierlei läßt sie uns emp- 
finden: zuersl Harmonie; diese ist in der reinen, aus- 
geglichenen, fnsl makellosen Form; und dann Poesie. An 
einer kleinen Unebenheit. einer Abweichung vom Eben- 
maß, einer Stelle, die ein wenig zu bauchig sich vor- 
wölbt, erkennen wir, dnß diese Vase nur Menschenwwk 
und nicht ein Werk der Götter ist, auf Erden und nicht 
im Olymp geschaffen; und wir denken an das Alter der 
Amphore und ihre Geschichte, an die Hände, die sie 
formten, und die Hände, die sie berührten, ehe sie hier 
aufgestellt wurde im Museum; an die Blicke, die sie be- 
trachteten, die Gedzinken. die vor ihr sich begegneten. 
Vielleicht stand Schliemann hier und erklärte sie, homer- 
besessen, seiner jungen Frau als ein Gefäß der Aphro- 
dite? - Ein Wort von Joan Mirö drückt das aus. Man 
müsse in der Malerei, so sagte er, "über die Form hin- 
ausgehen, um zur Poesie zu gelangen". 
Ein Gegenstand ist aus sich heraus nicht poetisch. Sein 
Dasein ist vom Menschen, der ihn wahrnimmt. unab- 
hängig, er ist auch ohne den Menschen vorhanden. Die 
Poesie eines Gegenstandes entsteht erst durch seine Be- 
ziehung zum Menschen, Erst unser Gefühl macht die 
Dinge bedeutungsvoll und kann sie poetisch erklären. 
Poesie wird mit dem Herzen empfunden. 
Das Flüchtige und Zerbrechliche an ihr berührt das 
Herz und läßt es um sie zittern. Poesie ist alles, was 
hindeutet auf die innige Beziehung zwischen zwei Men- 
schen, isl alles, was an Liebe rührt. Eros und Rose - 
einander spiegelnd und einander meinend _ sind die 
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