unmittelbar unter der Kuppa4) hat einen zu geringen
Durchmesser, um den Oberabschluß des Fußes so
gehalten haben zu können, wie er sich uns jetzt
darbietet. Die schattenhafte Spur einer Eintiefung
ungefähr 3mm vom Oberrand, unmittelbar über
den Nieten, zeigt mit aller Klarheit, daß dieser Ab-
schlußrand einstmals von einem Ring oder einem
Knauf gehalten war, der nun verschwunden ist.
Der Schaft muß ein wenig kürzer als heute gewesen
sein; wenn wir den Ring des 17. Jahrhunderts ent-
fernen und annehmen, daß der Ring des 16. Jahr-
hunderts einen Knauf von etwa der gleichen Höhe
ersetzt, erzielen wir ein überzeugendes Maßverhältnis
(Abb. 2). Die Proportionen des sogenannten „Foun-
der's Cup" in Christ's College, Cambridge, sind
ersichtlich von einem Modell abgeleitet, das unserem
Goldpokal sehr ähnlich gewesen sein muß. Diese
Tatsache unterstützt unsere Annahme (Abb. 3). Der
Pokal von Cambridge, der von etwa 1440 stammt,
hat einen schärfer ansteigenden Deckel und zeigt
überall etwas gestrecktere Linien. Sein Schaft ist
daher auch ein wenig höher als der unseres Pokals,
doch würde ein noch kürzerer Schaft für den Gold-
pokal, wie er zustande käme, wollte man beide Ringe
entfernen -xvie auch bereits vorgeschlagen wurde -,
zu allzu gedrungenen Maßverhältnissen führen 5).
Wie wir sahen, ist der Bestand des Pokals urkundlich
bereits für 1391 gesichert, als cr vorn Herzog von
Berry dem König Karl Vl. bei der Begegnung
beider in Tours in diesem Jahr geschenkt worden
war. Ohne Zweifel sollte das kostbare Geschenk
zur Wiederversöhnung beider Männer beitragen.
Doch das Ereignis trat plötzlich und unerwartet ein,
so daß kaum anzunehmen ist, der Pokal sei extra
dafür hergestellt worden. Die Tatsache, daß Leben,
Märtyrerschaft und Xllfunder der hl. Agnes auf ihm
in Email dargestellt sind, haben die Vermutung
nahegelegt, der Pokal könne mit Karl V., der am
16. September 1380 starb, in Verbindung gebracht
werden. Karl V. wurde an einem 21. Jänner, dem
Tag der hl.Agnes, geboren, und natürlicherweise
förderte der Herrscher den Kult dieser Heiligen.
M. Delisle hat nachgewiesen, daß Karl V. zur Zeit
seines Todes nicht weniger als dreizehn kostbare
Objekte mit Darstellungen der Heiligen besessen
hat. Mit guter Begründung wurde daher vorge-
schlagen, der Due de Berry habe den Pokal zum
Geburtstag seines Bruders am 21. Jänner 1381 an-
fertigen lassen, doch sei die Übergabe des Geschenkes
nie erfolgt, da der König bereits vor diesem Geburts-
tag das Zeitliche segneteö).
Überraschend wenig ist bisher an Versuchen einer
stilistischen Analyse des Pokals veröffentlicht worden.
immerhin hat man darauf hingewiesen, daß die
feine pointillistische Dekoration, die den gesamten
glatten goldenen Grund des Pokales mit reizvollem
Rollwerk, gebildet aus naturalistischem, von Vögeln
bewohntem Laub bedeckt, an den Dekor des Hinter-
grundes mancher Teilstücke aus der Tapisserie-Serie
der Apokalypse von Angers erinnert, die in Paris
zwischen 1375 und 1384 entworfen worden war7)
(Abb. 8). Doch ein bloßer Blick auf die Zeichnung
des Figurenstils beweist, daß nichts von den ge-
knickten Drapierungen oder den stilisierten Köpfen
mit ihrem dichtgelockten Haar 7 diesen so charakte-
ristischen Elementen der Tradition des 14. Jahr-
hunderts in Frankreich 7 auf unserem Pokal zu
finden ist. Der weiche, glatte Fall der Gewänder auf
dem Pokal zeigt die volle Assimilierung des italieni-
schen Einllusses auf, der in vielen Teilen Europas
gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts fühlbar war
44
(Abb. 4). Eine abschließende Analyse würde ergeben,
daß dieser italienische Zug unseres Pokals von der
Florentiner Schule abgeleitet werden muß - und
von ihrem größten Vertreter am Beginne des 14. Jahr-
hunderts, Giotto (Abb. 7). Aber nicht nur in der
Drapierung kann dieser Einiluß beobachtet werden,
sondern ebenso in den schlichten, geschlossenen
Umrißlinien der Figuren, in den Posen einiger von
ihnen, wie beispielsweise der auf dem Boden vor der
Bahre sitzenden Gestalt (Abb. 1), und schließlich
auch in der gesamten Raumauffassung. Der von den
Gestalten der Tiefe nach ausgefüllte Raum ist tat-
sächlich von ihrem eigenen Volumen geschaffen und
umschrieben. Die Grundebene ist von begrenzter
Tiefe, ihr Horizont ist niedrig. Die Architektur ist
auf den sehr begrenzten Einsatz kurzschriftartiger
Symbole beschränkt; all dies begegnet uns auch im
Werk von Giotto (Abb. S). Doch der Goldgrund, der
an sich jene unbegrenzte Räumlichkeit nahelegt, die
bei Giotto zumeist durch die Ausbreitung von hlauem
Himmel erzielt wird, ist bei unserem Pokal infolge
des Bedecktseins mit Rankenwerk etwa als eine Art
von Vorhangabschluß bei einer seichten Theater-
bühne zu verstehen (Abb. 4). Die Gestalten, die in
der Florentiner giottesken Malerei so statisch-irdisch
wiedergegeben sind, scheinen auf unserem Pokal in
wesentlich griäßerer Verfeinerung und betont höii-
scher Eleganz auf, doch ist es schwer, diesen Stil in
Beziehung zur höfischen Buchmalerei der Pariser
Schule zu setzen. Die Betonung naturalistischer
Einzelheiten, figurenreicher Kompositionen und
hoher Horizonte, wie sie sich in Paris um diese Zeit
und in solchen Handschriften wie der „Cite de Dieu"