VOJTECH TILKOVSKY
Die Iirforrrblulg der Leuttrlmuer Plauplallar:
17er Hauptallar der Pfarrkirch: zu
St. Jakob in Leuuchau (Lcvoca, Üsrslrxwzkei)
mit geöffneten Flugeln. Lindunholz.
Die kunstgeschichtliche Erforschung des Hauptaltars der Pfarrkirche
zu St. Jakob in Leutschau (Levoöa, Ostslowakei), eines der Haupt-
werke der mitteleuropäischen Spätgotik und zugleich des höchsten
gotischen Flügelaltars iiberhauptl), begann vor ungefähr 100 Jahren,
als der tschechische Geschichtslehrer Vaclav Merklas die Beschreibung
der mittelalterlichen Kunstwerke der Kirche unternahml). Frühere
Beschreibungen 3) befaßten sich mit dem Hauptaltar noch nicht vom
kunstgeschichtlichen Standpunkt aus; erst Merklas versuchte das Werk
zu analysieren, erkannte im Altar stilistische Zusammenhänge mit dem
Krakauer Marienaltar des Veit Stoß und schrieb das Werk dessen
Schule zu, wobei er die persönliche Mitarbeit des Meisters nicht für
ausgeschlossen hielt. VUas das Entstehen des Altars anbelangt, stützte
sich Merklas auf eine Aufzeichnung in Caspar Hains Zipserischer
Chronik 4), laut welcher „Anno 1508 hatt tnann dass grosse Altar zu
Leutsch mit der Tatfel zugedeckt", und betrachtete dieses Jahr als den
Zeitpunkt, zu dem die AltarHügel eingehängt uncl damit der Altarbau
beendet Wurde5). Auch die Vergoldung des Altars, die laut einer
weiteren Aufzeichnung der Chronik während der Kirchenvaterschaft
eines gewissen Melchior Messingschlager vorgenommen wurde 6),
konnte nach Merklas, Vermutung im Jahre 1508 durchgeführt worden
sein.
Die darauf folgende zeitgenössische Geschichtsschreibung - - sowohl
die deutsche als auch die ungarische und die polnische - widmete
dem Altar bereits die ihm gebührende Aufmerksamkeit7), stützte
sich jedoch ausschließlich auf Merklas' Ansichten und Folgerungen;
so wurde Veit Stoß allgemein als Schöpfer des Altars betrachtet und
das Jahr 1508 als das Jahr der Vollendung des Werkes bestimmt.
Diese Thesen waren jedoch von kurzer Lebensdauer. Gegen Ende der
siebziger Jahre entdeckte der Leutschauer Pfarrer Paul Still eine Grab-
schrift an der östlichen Außenseite des südlichen Kirchenvorraums,
die unter den Ahnen der Familie des Steinmetzen Martin Urbanowitz S)
einen gewissen Meister Paul als Schnitzer des Hauptaltars erwähnt9).
Diese Entdeckung veröffentlichte der ungarische Geschichtsforscher
Imre Henszlrnannlo). Dadurch trat Meister Paul als Schöpfer des
Leutschauer Hauptaltars in die Kunstgeschichte ein,und somit begann
eine neue, leidenschaftliche Forschung in dieser Richtung.
Eine große Anzahl von bedeutenden deutschen, polnischen und un-
garischen Kunstgeschichtlern widmete sich von nun an der Paul-Frage,
die zu einer Schlüsselfrage der spätgotischen Altarbaukunst in Mittel-
europa geworden war. Sie versuchten Pauls Werk und Tätigkeit zu
bestimmen, diese künstlerisch zu werten und die Persönlichkeit des
Meisters zu evozieren. Nachdem aber das Stadtarchiv von Leutschau
bereits im Jahre 1550 durch eine Feuersbrunst völlig vernichtet wurde,
konnten die übrigen Quellen nur mit geringem historischem Material
zur Klärung der Frage beitragen. Hiezu kam noch die Tatsache, daß
der immer schlechter werdende Zustand des Altars, der trotz teilweiser
Restaurierungen I1) nach dem zweiten Weltkrieg bereits mit Zusammen-
brechen drohte, kein gründlicheres Studium des Werkes zuließ. Damit
ist es zu erklären, daß die Forschung sich mehr auf Hypothesen als
auf konkretes Wissen stützte und in ihren Resultaten von der Richtig-
keit der angewendeten Methoden, von der Stufe der wissenschaftlichen
Akribie, lnvention und Phantasie der Forscher abhängig war.
Die in der Grabschrift angeführten Familienbeziehungen gaben bereits
Henszlmann den Impuls, die Lebensgrenzen des Meisters Paul zu
berechnen und daraus Folgerungen auf die Zeit des Altarbaus zu
ziehen. Ein Fehler, den er in der Deutung des lateinischen Textes
beging, verursachte jedoch eine Verschiebung der Generationen und
gab ihm Grund zur Behauptung, daß der Altar nicht vor dem Jahre 1515
entstehen konnte. Henszlmanns Irrtum in der Zeitrechnung wurde erst
ein Vierteljahrhundert später von Kornel Divaldll) erkannt; bis
dahin akzeptierte die europäische Kunstgeschichte Henszlmanns
Behauptungen, und nur Peter Gereczell) griff noch zu Merklas' An-
sichten zurück.
Zu einer späteren Datierung des Altars gelangten in ihren Folgerungen
auch Berthold Daun14), Andras Peterß) und Antal Kampis 16), und
zwar sowohl auf Grund stilistischer Erwägungen als auch auf Grund
der Annahme, daß Meister Paul früher in Nürnberg in der Stoß-
Werkstatt tätig gewesen wäre. Seine Beziehungen zu Veit Stoß wurden
dabei auf verschiedenste Weise gedeutet.
Henszlmann vertritt noch die Ansicht, daß Paul aus der Krakauer
Stoß-Werkstatt hervorgegangen wäre. Dies behauptete auch Felix
9