wältigenden Eini-luß Europas während der
letzten beiden jahrhunderte an Boden, doch
ist sie aus der künstlerischen Entwicklung an
keinem Orte und nirgends wegzudenken. Denn
in der natürlichen Perspektive zeichnen selbst
heute noch, wie H. Schäfer a. a. O. nachge-
wiesen hat, alle unsere Kinder.
Die Nutzanwendung der dargelegten Prinzi-
pien auf die islamische Ornamentik ergibt
folgendes: Die Ranke, in einer Bordüre etwa,
rollt immer und zur Ganze seitlich dahin, sie
enthüllt an jedem Punkt und in ihrer gesamten
Länge jederzeit ihre Funktion, der Beschauer
sieht sie überall und in gerader Aufsicht. Die
gerade Aufsicht erlaubt auch, an einen mög-
lichen Ursprung der Ranke aus der Girlande,
dem Blumengewinde um einen Pfeiler herum,
zu denken. Im Flachbild der Bordüre wäre
dann die Ausführung des Pfeilers als unwichtig
unterblieben. Das Beispiel eines solchen Pfei-
lers mit Ranken in plastischer Ausführung
erblicke ich an einem Bauwerk der byzanti-
nischen Kunst aus dem sechsten Jahrhun-
dertla. - Die Blüten selbst Öffnen wieder
im rechten Winkel zur Ranke und in gerader
Aufsicht zum Betrachter ihre Blüten. Die
Sternblüten zeigen Vollansicht. Damit wird
das Wichtigste und das Wesentlichste an der
Funktion „Bliihen" ausgedrückt. Kelchblüten
bieten gerne das Profil. Die Funktion eines
„Kelches" ist eben im Profil am klarsten zu
erkennen, und der Kelch der Tulpe gilt zum
Beispiel dem Mystiker als der Kelch, in dem
der Wein, das ist das Leben selbst, kredenzt
wird. Eine Ausnahme bildet die Rose in
der türkischen Ornamentik, ihrer einzigartigen
Stellung unter den Symbolen verdankt die
Rose auch die besondere Form des Aus-
drucks.
Ein Problem, welches dem Ornamentiker
immer wieder gestellt wird, besteht darin, in
einer Fläche zu gestalten, was der Betrachter
als räumlich empfinden soll. Der muslimische
Künstler bediente sich zur Lösung dieses
Problems der Möglichkeiten, die sich aus
seiner Perspektive ergaben. Die Stengel an
Blumensträußen, die sich in Wirklichkeit z. B.
auch vor- und rückwärts zum Betrachter
neigen, werden immer seitlich rollend gezeigt.
Der vernünftige Verstand verband die Funk-
tionen, formte aus dem „Nebeneinandef ein
„Überallhinneigen" und nahm das Gebilde
als „Blumenstrauß" in unserem herkömm-
lichen Sinne zur Kenntnis. Eine weitere
Möglichkeit, räumlich empfinden zu lassen,
ergab sich aus der Anordnung in übereinander
gelagert erscheinenden Ebenen. Es gibt eine
ganze Reihe von Stücken, an denen man eine
solche Anordnung beobachten kann! Die
Motive - Blüten, Blumen, Knospen, Stengel
und Blätter - hängen dort in artigen Netz-
werken manchmal so, daß der Betrachter „in
die Tiefe des Raumes" hineinschaut. Der
Effekt wird durch geschicktes Verschlingen
der Linien, Parallelität und besonders bei den
geometrischen Ornamenten durch Kompro-
mißlosigkeit in der Farbgebung erreicht und
gehöht. Der Zweck war Absicht und wird
von uns auch so interpretiert. Denn wir
haben uns daran gewöhnt, von „grundieren-
den Farben" zu sprechen, von denen sich die
verschiedenen Gruppen „abhehen".
6
Auch die Darstellung von Figuren ist unter
dem Blickpunkt der natürlichen Perspektive
zu verstehen. Hier tritt jedoch ein Element
klar zutage, das im Bereich des rein PHanz-
lichen zwar ebenso vollauf beobachtet werden
kann, vom Betrachter aber gerne als selbst-
verständlich eingestuft und darum übersehen
wird: ich meine das Element der Bewegtheit
und der Bewegung in den Ornamenten.
Bewegtheit 4 sie ist das einzige Mittel, das
dem Künstler zur Verfügung steht, um
seinem Werk den Ausdruck des Lebendigen
zu verleihen. Und die islamische Ornamentik
dient dem Lebendigen, und die islamischen
Ornamente sind voll bewegt! Damit rundet
sich wieder ein Kreis, das Werk des Künstlers
wird der inneren und der äußeren Wahrheit
gerecht. Denn es entspricht die äußere Be-
wegtheit dem Zeichen des innerlich Leben-
digen. Der Geist faßt nach der Funktion, die
Seele wendet sich von der Unruhe des Alltags.
Sie sucht Schönheit 7 und findet eine heim-
liche Stätte zum Verweilen am Kunstwerk,
davon sie gerne Besitz, wie von etwas Le-
bendigem, ergreift.
Die hellenische Perspektive aber verzerrt! Und
Verzerrung soll von der Seele ferngehalten
werden. Der Betrachter soll freundlich emp-
finden. Was dargestellt sein will und sein
soll, wird darum ohne Verzerrung und voll
dargestellt! Und wenn die arabischen Denker
die griechische Philosophie übernommen, ge-
pHegt und weiter entwickelt haben - das
liellenische Sehen als künstlerisches Erbe
haben sie nicht mitübernommen. Es wider-
sprach einfach dem Denken, der Weltan-
schauung und der Lebensauffassung des
Islam.
III
Wenden wir uns einem weiteren Kriterium
der Ornamentik zu - es ist die Liebe zum
kleinen Detail und die Gestaltung dessen, was
wir „typisch islamisches" Gepräge nennen.
Wenn die Künstler in der Beschränkung, in
der Wahl der Gattungen Meisterschaft zeigten,
so regte sie doch eine unerschöpflich schei-
ncnde Phantasie zu Werken an, denen wir als
besonderes Charaktcristikum die Liebe zum
Detail zuerkennen müssen. Es gibt keinen
anderen Kunstkreis, der derart liebevoll das
Kleine, unbedeutend Erscheinende heraus-
gestellt, ja als wesentlich gefordert und durch-
geführt hatl Die künstlerische Linie aber
blieb daneben oder vielleicht dadurch ge-
wahrt 7 durch die Zeiten hindurch. Denn
der Reichtum an Erlindungskraft, das Genie
erging sich nicht darin, grundsätzlich Neues
zu suchen. „Revoluti0n" kennt die islamische
Ornamentik nicht, sie hätte in diesem Sinne
nur einen „Abweg" bedeutet. Sondern was
einmal als gut und gefällig befunden worden
war, was Erfolg hatte - das blieb erhalten
und wurde im Detail liebevoll ausgestaltet.
Es gibt ja vom Schönen nie Besseres, sondern
nur Schöneres, wenn es auf den soeben er-
lebten Augenblick bezogen Wird.
Der Islam hat nichts absolut Neues geschaffen.
Pflanzenranken, geometrische Muster hat es
immer gegeben. In einem aber hat sich seine
Kunst von der der vorangehenden und um-
II SCHRIFT ALS ORNAMENT
s Die Formen der smiin dienten den Künstlern gegebenen-
falls auch zur Gestaltung des Haupltllcmas. Oben: num-
siabcn im Relief um Ranken an Fliesen mit Lusrcrdekor.
Kasclmn. 13. jahrhundcrt. H 13,5 und 14 cm. 1x 21 und
zs cm. Österreichisches Museum für angewandte Kunst,
wim. Inv. NL 2095er.
9 smiin als Hauptthema: langgezogcnc liurhsizbcnhasteil
und Flechtwerk mit Kutimotivcn utu-i Ranken. Moschee-
ampel aus (inldemailglas (Glas mit Emaildekor um ver-
goldetrm (zmud), syrisrh-ägypf u. Jahrhundert.
n 2a. n 21 uuu 12 Cm. Östtrrdc hC M "eum riis an-
gewandte xuusi. Wien. Inv. Nr. m. 3035. - Widmung
Clnricv: du Rothschild im Andenken Jll Alphoxise dc Roth-
Schild
10 Schrift als fullendcs Ornament auf einem Wirkcreifragment:
Naßuiiiuuniuusiu Grund, Kuficlcincnlc iu den ßiudsmugm.
Seide, Agyplcn. 12. Iahrhundcrt. 10 Y s (m. Österreichisches
Museum für angewandte Kunst, wim. Inv. NL "rsw
11 Kursive und Kuti-Schrifr in Friescn an einer Schale aus
Fayrnce mu Lüstcrmalertl. Kzghes (Raj). u. Jahrhundert.
H 11 rm, n 14,5 m1. Österreichisches Museum rui ange-
wandte Kumi. Wim. lnv. NL Ke 6105
12 V01] Westafrika bis zur Mongolei llilbth die Völker mit
dem Islam iniCll dic arabische Schrift angenommen. Dabei
wurde" neu: Formen entwickelt. WEH gefiel und Erfolg
hatte. blieb erhalten. 7 smiinpmiit- .us Uilltf lntidclncn
nrnbisclcn Zeitung. Neben dem gewöhnlichen Nißchi das
stntllicicrc Tulut. Aus dem Näßchi leiteten die Perser den
hängenden Duktus, das Triik, m. Die Osmrmcn erfunden
dic eigenwillig gebrochene nuk-usuiii-iri. Man beachte
die kalligmphische Spielerei: der Kopf m der Figur wird
durch den Schrifrduktus nachgeahmt
ANMERKUNG 18
H Siehe Volbach-Lafontnine-Dosiognc. Byzanz und der Osten,
Berlin 1968,Tif. 1162m (Propyläenkunslgcschichte, Band a).