Vision sechsfacher Betonbahnen und frei schwe-
bender Kurven beschert hat, die in das Reich der
höheren Mathematik gehören, demonstriert jene
Kurzlebigkeit, iene frustrierende Unmenschlich-
keit, an der die industrielle Gesellschaft krankt
und - gar nicht mehr so unbewußt - leidet. Der
Materialismus, den ein offensichtlich atavisti-
scher Selbstzerstörungstrieb im Menschen be-
wußt (noch) nicht zu hemmen vermag, scheint
sich freilich, manche Anzeichen sprechen dafür,
selbst ad absurdum zu führen. Es könnte durch-
aus sein, daß wir in nicht ferner Zeit unsere
Landschaften durchstreifen, auf denen nichts ge-
schieht, wohl aber ein Stück tragischer Archäolo-
gie zu enträtseln ist in Form van Betonböndern
und Kurven, die Wälder durchschneiden und
Berge durchbohren, weil entweder der geheime
Zeitgeist, der diese Maschinen bewegt, erloschen
ist, oder das Öl. Die Sehnsucht nach dem Irra-
tionalen, nach dem Mythos, nach der künstleri-
schen Durchdringung des Lebens, nach Illusionen
und Träumen ist längst da, ist wohl mit einer der
tieferen Gründe der Auferstehung einer Kunst,
die ganz ungebrachen und unreflektiert solchen
Idealen huldigte.
Was beim Publikum unbewußte Neigungen, un-
bewußtes Anklingen eines von der Gegenwarts-
kunst, soweit sie sich avantgardistisch gebördet,
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F. Fock: „Guguck!", Reproduktion, Entstehung
und Besitzer unbekannt
Hans Mukart: Skizze zum Jubilöumstestzug
[Eisenbahn], 1879, Wien, Historisches Museum
der Stadt Wien
Ccspcr David Friedrich: „Der Wanderer über
dem Nebelmeer", vor 1818, Hamburg, Kunsthalle
Hotzstich nach dem Gemälde „Das elektrische
Licht" von Ludwig Kandler (1884)
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Wilhelm Kray, Lorele
Ccspur Ritter; „Bccc antin"
Holzstich nach der Skulptur „Geruubt" von Em-
mclnuel Fremiet, um 1887188
Johann Heinrich Füssli: „Die wahnsinnige Kute",
1806107, Frunkturt a. M., Goethe-Museum
brachbelassenen Nervs ist, beginnt gelegentlich
auch schon in wissenschaftlichen Auseinander-
setzungen durchzuklingen.
Die Pariser Schau „Van David bis Delacroix"
etwa inaugurierte nicht nur eine historisch-kriti-
sche Umbewertung der Kunstgeschichte - wie sie
auch die vielen anderen Ausstellungen, die nun
mit der Kunst des 19. Jahrhunderts in ihrer plura-
listischen Vielfalt konfrontieren, erkennen las-
sen -, sie ist ganz deutlich auch zur angewand-
ten Kunstideolagie mit unijrbersehbarem Gegen-
wartsbezug geraten; die Klage über den Abbau
des lnhaltlichen, über die Entwertung der kodi-
fizierten Gattungssysteme (Historienmalerei, Por-
trät, Landschaft, Genreszenen) durch die Gegen-
wartskunst, über die Einengung des künstlerischen
Blickwinkel: auf vorwiegend formalistische Pro-
blemstellungen, deren Aussagewert und gesell-
schaftlicher Bezug gering, die oft genug nichts
anderes sind als kombinatorisches L'art-pom-
l'art, wird da in den Katalogvorworten mächtig
angestimmt. Es ist durchaus evident: hier wurde
mit einer Ausstellung Kunstpolitik betrieben,
wurde ein kräftiger Hebel angesetzt, mit dem die