Weltkunst hat die Moderne beeinflußt, die Ma-
derne aber umgekehrt die Tantra-Kunst. Da es
„die" Tantra-Kunst als objektive, unwandelbare
Gegebenheit nicht gibt, ist diese Feststellung
nicht so absurd. Denn die Sicht von der Tantra-
Kunst ist erst durch die Analogisierungsmöglich-
keit mit der Moderne entstanden. Wir haben
nicht „den" Gegenstand, sondern nur das „BiId",
die Vorstellung desselben. Und dieses „Bild" ist
erst zehn Jahre alt.
Noch Heinrich Zimmer (1890-1943), der bedeu-
tende lndaIoge-Kunsthistariker, hat var der Be-
handlung der Kultbilder als Kunst ausdrücklich
gewarnt". Er hielt eine Wiedergabe der lkano-
graphie und der ursprünglichen Verwendung
etwa der Yantras (abstrakte Kultbilder) als reali-
tätsentrückende, in das Unbewußte vordringende
Meditationsinstrumente für wesentlich. Damit er-
weist er sich bei aller religionshistorischen, seit-
her kaum mehr erreichten Meisterschaft der
Darstellung als Kind seiner Zeit".
Das nun erstmals historisch sichtbar gewordene
Kunstverständnis der zwanziger Jahre, wie es
das Jahr 1977 in mehreren Ausstellungen, vor
allem in Berlin", darbot, ist dem Zimmers in für
Der Kunsthistariker, der nicht imstande ist, eine
Ordnung zu schaffen, dem sich die verschiedenen
Werke weder als historische Folge noch als kul-
turgeographische Einheit zeigen, hat sich auf
seinen Ausgangspunkt zurückzuziehen. Auch
wenn es gelingen mag, nach und nach einzelne
Bilder in den allgemeinen Strom indischer Kunst
einzubinden, so bleiben manche Qualitäten be-
stehen, die vorher unbekannt waren und die
heute vor allem Künstler und Kritiker, weniger
den Kunsthistariker, ansprechen.
Die ahistorische Tendenz, aufgrund dieses Inter-
esses eine gemeinsame Schicht menschlicher
Kreativität anzunehmen, leidet unter einer op-
tisch-perspektivischen Täuschung. Wenn versucht
wurde, ausgewählte Kriterien moderner Kunst
mit solchen der Tantra-Kunst zur Deckung zu
bringen, formal etwa einen Kreis mit einem an-
deren (Abb. I, 2), so beschränkt man sich immer
auf einen Aspekt. Man glaubt nun, daß die
„Schnittmenge" beider Kriterienmengen die all-
gemein-menschliche Sphäre sei. Jedoch beträgt
die Schnittmenge aller Kunstbereiche, Kriterien,
Aspekte (nicht nur dieses einen, nämlich „Kreis")
gleich Null.
2
Aber - und das ist wohl das Entscheid
die Möglichkeiten, Aspekte, wenn auch l
schiedenen Werken gänzlich verschiedene
notwendigerweise formaler Art, zu koord
verweist auf den subjektiven Standort de
preten oder naiven Betrachters wie auf l
flex objektiver Tatsachen. Dieser dial
Kontakt zwischen Subiekt-Obiekt bietet
dem die Falie differenzierter Fragestellun
nach den Gemeinsamkeiten, sondern nc
Unterscheidungen, welche die historische
wieder herstellen.
Es mag sein, daß das Einsetzen dieser
dischen Vermittlungsebene zur Klärung (ni
der Tantra-Kunst beitragen könnte. Das
Folgenden praktisch an einigen Beispie
zeigt werden.
lll.
Die Darbietung der Tantra-Kunst verwei
in ihrer Uneinheitlichkeit auf die Schwierig
in der Kunst der letzten Jahrzehnte ei
meinsame Linie festzustellen - ein Umsta
ganz allgemein den Stilbegriff diskrediti
Betrachten wir noch einmal den Gegensi
3
uns entscheidenden Punkten vergleichbar". Vor
allem die lnfragestellung der Realität als den
verschiedenen Strömungen (Konstruktivismus,
Surrealismus-Realismus,Dada) gemeinsames Mo-
ment und der Verlust des Abbildes in der gegen-
standslosen Kunst haben sein Augenmerk auf die
Yantras gerichtet. Zimmers Betonung der funk-
tionalen Gleichheit aller Pratimas (Kultbilder), ob
abstrakt oder figurativ, seine Schilderung des
Pranapratishta (Belebung der Kultbilder), in wel-
chem das energetische Liniennetz mit einer Gott-
heit identifiziert wird, findet in der Kunst seiner
Zeit als eine Parallele das Werk Oskar Schlem-
mers. Dieser hat die Geometrie als Ausdruck der
Ordnung des Kosmos verstanden, und seine
Menschengestalten werden oft so reduziert, daß
sie in Liniengefiige übergehen oder aus ihnen
entstehen - seine Abstraktion ist wie die der
Yantras nie gegenstandslos.
Das Spektrum der Tantra-Kunst hat sich seitdem
grenzenlos erweitert. Das entspricht dem Bedeu-
tungswondel unseres Kunstbegriffes. Die Ent-
wicklung der Kunst der letzten fünf Jahrzehnte
hat den Blick auf Gestaltungen gerichtet, die
vordem unbekannt waren, weil sie nicht gesehen
werden konnten. Darüber hinaus haben sich die
Reproduktionsmöglichkeiten in vorher nicht ge-
kannter Weise der Interpretation, um nicht zu
sagen der Verfälschung und Manipulation, be-
mächtigt. Vor allem das Näherrücken des Stand-
punktes, die Isolation von Bildteilen, das Monu-
mentalisieren von Manuskriptillustrationen, das
willkürliche Beschneiden der Ränder bis zu den
Verfälschungen durch Farbhochglanzdrucke, all
das verunklärt die Zusammenhänge und hat neue
Gegenstände geschaffen.
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I Kosmisches Mandala (Kreis), Uttar Pradesh (17.
Jh.?), Gouache. Das Universum im Ausgleich
zwischen Evolution und lnvolution
2 Kenneth Noland: Mercer, 1962. l
Im Gegensatz zu Abb.1 asymboIisch-ästhetischer
Signalismus
3 Die Ursilbe OM in Likhit-Japo (Schrift-Rezita-
tion), Benares, zeitgenössisch.
Die Vorstellung einer lsomorphie von Sprache-
Laut und Formen führt zu Schriftbildern oder
Kombinationen von formalen und schriftlichen
Elementen
4 Yoni, Uttar Pradesh (17. Jh.?), Gouache.
Das weibliche Organ, als dynamisches Prinzip
der Weltenschöpfung, entspricht dem auf der
Spitze stehenden Yantra-Dreieck (Abb. 6). Die
vier Kreise sind die Gunas (Urquolitäten) und
das Ich-Bewußtsein
5 Astrolagisches Diagramm, Raiasthan (17. Jh.?),
Gouache.
Das Koordinatenfeld erfährt einen Impuls durch
den links eingeführten schwarzen Lingam (Phal-
Ius). Im Unterschied zu damit verglichenen Bil-
dern von Paul Klee gibt es wenige geometrisch
fixierte Farben und keine eigene Monumentali-
töt
Anmerkun en13-2O _ _ _
" Zimmer, einrich: Kunsttorm und Yoga im indischen
Kultbild,1926, Frankfurt a. M. 1976, s. sa, i4_8,_257, u. q._
" Ob seine idealistische Ansicht von der religiösen Basis
indischer Kunst angemessen ist, wird_in Anbetracht
künstlerischer Praxis bezweifelt. Saraswati, K.: lndian
Art, artists point of view. lndian Aesthetics and Art
Activity, Simla 1968, S. B9 f. _
"Tendenzen der zwanziger Jahre, 15. Europäische Kunst-
Ousstellung, Berlin 1977.
" Es ist kein Zufall, daß mit dem Interesse an der
Kunst der zwanziger Jahre auch das Interesse an den
damaligen Interessen erwacht ist. Zimmers wichti ste
Bücher sind in den letzten Jahren wieder aufge egt
worden. S. Anm. 13, Indische M then und Symbole,
Düsseldorf, Köln 1972, Yoga und uddhismus, Indische
Sphären, Frankfurt a. M. 1973.
" Kultermann, Udo: Neue Farmen des Bildes, Tübingen
W69, S. 47.
"Freundin, Heft I6, 1977. Test: Gehen Sie gleich aufs
Ganze, wenn Sie verliebt sind?
"VflBSEfl-Ilhddlll: Robert Delaunay, Licht und Farbe,
Köln 1967, S. 9.
"Charan, Jean: Geschichte der Kosmologie, München
1970, S. 220.
beiden Kreise (Abb. 1, 2). „Der Kreis sp
Grundform in Analogie zum Kosmischen
Kunst der Vergangenheit sowohl in Chii
Indien als auch in der europäischen Kui
Mittelalters und der Renaissance eine bes
Rolle. Der Kreis ist eine Endform, Ausdrucl
ster Vollkommenheit, eine Ganzheit, die wi
andere in sich geschlossen ist"".
Das Mandala (Abb. 1) aus einem Man
verweist als Abbild auf die Struktur des g
ten Kosmos, die Kreisscheibe (Abb. 2) er
als ästhetisches Zeichen mit Signalwirkung
ikonographische Bedeutung in perfekt tech
Ausführung. Aber auch Tantra-Werke, vi
schon erwähnten Yantras, können in matt
scher Klarheit erscheinen. Und umgekehrt
eines der wesentlichsten Charakteristik
neueren Kunst, daß die Sorgfalt der Ausfi
vällig belanglos geworden ist, man der
Dieter Roth oder Joseph Beuys.
Aus demselben Manuskript sind einige Abl
gen in dieser Sicht erwähnenswert. Etwa
Herzen von Jim Dine erinnernde Yoni (A
die wiederum, den gesamten Kosmos in sii
gend, als weibliches Organ, Symbol der
den dynamischen Aspekt der Weltentst
darstellt.
Aus einem anderen Manuskript stammen
beiden Srshti, die Weltenschöpfung in
Phasen darstellenden Blätter (Abb. 6), der:
male Erscheinungsweise so selbstverständli
mutet, daß sie gar für papulär-psycholc
Testbilder Verwendung fanden".
Seit Robert Delaunays Farbfigurationen i
zwanziger und dreißiger Jahren, die sicl
Gegenstand lösten, sind die Perzeptionsv