und im Licht (Lichtgeschwindigkeit) punktuell er-
reichbar ist, liegt auch der tantrischen Kosmolo-
gie zugrunde. Nicht nur ästhetische Vorausset-
zungen, Änderungen im rezeptiven Verhalten
„Kunst" gegenüber, sondern auch heute mögli-
che erkenntnistheoretische und kosmologische
Theorien machen ein Erfassen von Tantra mög-
lich. Wie bei den ästhetischen Analogien ist
doch auch hier auf die wesentliche letzte Unver-
einborkeit des Konzepts hinzuweisen. Für den
Tantrika handelt es sich um den Kulminations-
punkt eines inneren erlebbaren Universums, wäh-
rend die noturphilosophischen Spekulationen die
äußere Wirklichkeit in einem theoretischen
Grenzfaktor betreffen. Doch die Psychologie hat
durch die Aufdeckung der Persönlichkeitsschich-
ten und des Unbewußten ein Verständnis auch
dafür vorbereitet.
Das punktuelle Nichts als Quellgrund findet nicht
nur seine Darstellung im Bindu (Punkt), der sich
im Zentrum eines Yantras befinden kann, son-
dern auch als Freiheit von allem Phänomenalen
in als Mula-Prakriti (1 Wurzel-Materie, Urgrund)
oder als Ambika (: Shakti als Mutter der Welt)
bezeichneten leeren, mit Rahmen versehenen
Flächen, ia sogar in leeren Rahmen ohne Bild-
fläche. Daß diese gestaltungslosen Flächen auch
abgebildet werden, hängt mit einer starken Ten-
denz der Malerei der letzten Jahre zur Mona-
chromie zusammen". Kasimir Malewitsch hat
schon 1913 in einer völligen Reduktion ein ein-
faches schwarzes Quadrat auf den weißen Grund
gesetzt. In den Jahren danach malte er auch
Weiß auf Weiß. in den Jahrzehnten seither ist
immer wieder eine radikale Reduktion versucht
worden. So hat der Deutsche Raimund Girke
nach 1960 durch viele Jahre Weiß als „seine
Farbe" reklamiert und nur weiße Bilder gemalt.
Seinen Bildern kommt ein ästhetischer Wert zu,
sie behaupten sich durch die erreichte Struktur
innerhalb eines Rahmens auch vor weißen Zim-
merwänden.
Der Leere der indischen Bilder kommt dagegen
keine Exklusivität zu, sie bleiben von der Dar-
stellung her völlig anspruchslos. Eine undefinier-
bare Farbigkeit verdedrt einfach den Grund.
Aber selbst dieser Mangel der Gestaltung ist in
den letzten Jahren als möglicher ästhetischer
Wert vom Publikum angenommen worden. Seit-
dem es die „arte povera" gibt, die der tedlni-
sierten, industrialisierten Perfektion entsagt, um
mit „notürlichen" Materialien und Mitteln an-
spruchslose, eben „arme" Bildwerke zu schaffen,
ist das Publikum auch bereit, vom Materialwert
wie vom „Arbeitswert" abzusehen.
Abstrakte Bildformatianen sind nicht auf Manu-
skripte beschränkt. Durch die fünffältige Einheit
(pancatadatmya) von Yantra, Gottheit (Devota),
Silben (Mantra), Meister (Guru) und Adepten
(Sadhaka), in denen die Gestalt einer Gottheit
mit einer Lautkombination oder einer geometri-
schen Zeichnung gleichbedeutend, gleichwertig
ist, ist für den Betrachter alles austauschbar.
Aber Zimmer hat diese Äquivalenz überbetont.
Auch für den Tantrika ist, solange er wachbewußt
ist, ein formaler Unterschied vorhanden. Erst bei
der Auflösung jeglicher Form im Samadhi (En-
stase) wird eine identität erreicht. Kultbild und
Yantra sind verschiedene Seiten ein und der-
selben Energie, wie das auf den Bildern von
Chinnamasta und Dhumowati mit ihren ent-
sprechenden Yontras sichtbar ist (Abb. 7). Auch
wenn es nicht ganz richtig ist, liegt die Bezeich-
nung mit Grund- und Aufriß nahe.
Diese „Energiearchitekturen" erfüllt ständig ein
sich wiederholender, alles andere ausschließen-
der Klang. In vielen Darstellungen fließt daher
die Schrift ein. Die Schrift kann in der Darstel-
lung des Götterpantheons die Anwesenheit einer
40
Anmerkungen 21-30 _
7' Das bezeichnete oudl die Sadigasse der Präsentation
der heutigen Malerei auf der documenta 6, Kassel 1977,
n älgläs-Sermair, Peter: kunst aus sprache, Katalog (Wien
6 .
" Zeichnung heute - Albertina, Wien
1977, Abb. S. 3D.
1' S. Anm. 23, Abb. B3, B6.
ß Beispiele zeigt die Ausstellung „kunSt Um 19m" GUS
der Sammlung Ludwig im Künstlerhaus, Wien 1977.
"' Metken, Günter: Spurensicherung, Kunst als Anthro-
olagie und Selbsterforschurlg, Köln 1977.
11 n Mookeriees „Yoga Art", s. Anni. s.
1' Ein Student hat bei der Aiiignlse, diesen Vergleich durch-
zuführen, überspitzt formuliert, man könne genauso
„Gasthof" neben „Gustav" stellen.
7' Religiös motivierte Körperphänomene.
Bodyianguage, Steirischer Herbst 1973.
" Kalenderbauten, Die neue Sammlung, München 1976.
Vgl. T. Z., Tantra- und Moderne Architektur.
S. 37-42
Drawing Now,
Körpelsprdfhl -
in: planen - bauen - wohnen 76, 1977,
Gottheit ersetzen, vertreten. In einer populären
Rezitationsmethode, dem Likhit-Japa (: Schrift-
Rezitation), bilden Mantras Bilder, entweder die-
selbe Silbe vergrößert oder auch figurative Ge-
staltungen (Abb. 3).
Die Schriftscheiben von Ferdinand Kriwet sind
eine moderne Parallele. Das ineinander von
Schrift und Gestaltung, ia auch das Entstehen
von Bildern durch Schrift, wie Guillaume Apalli-
naires „Gedicht vom 9. Februar 1915" (eine
Dame mit Hut], bildet eine wichtige Vorausset-
zung, Manuskriptseiten ästhetisch zu genießen.
ln der modernen Kunst verweist der Einbruch der
Sprache in die Bildwelt, von der visuellen Poe-
sie bis zur_ Concept-art" und darüber hinaus
als Schriftbild selbst,bis RabertMotris(Litanies)"
oder Sol LeWitt" auf die sprachliche Verfüg-
barkeit der Wirklichkeit oder umgekehrt auf die
Wirklichkeitsveränderung durch Sprache. Die
Werke in ihrer Unabgeschlossenheit verlangen
nach dem Mitvollzug des Betrachters, der aktiv
teilzunehmen hat. Auch im Tantra hat die Mantra-
Vidya (Silben-Wissenschaft) bewußtseinsverän-
dernde Kraft, die Wirklichkeit, wie schon ein-
gangs gesagt, wandelt sich ie nach dadurch er-
reichtem Bewußtsein. Dach während hier von
einer den Betrachter in sonst unbekannter Weise
einbeziehenden spirituellen Disziplin gesprochen
werden muß, der eine unwandelbare Ordnung
zugrunde liegt, ist die heutige ästhetische Sprach-
und Schriftlust unendlich variabel, nur der Or-
nung des unmittelbaren Zusammenhanges ver-
bunden.
Man kann die methodische Vermittlungsebene
zunächst auf den ästhetisch-formalen Bereich be-
schränken. Dabei läßt sich eine Reihe von Merk-
malen analogisieren, von der nur einige heraus-
gegriffen seien: abstrakte Grundformen (Abb. 1,
3, 4, 5, 6, 7, 9); totale Reduktion auf ein gestal-
tungsloses Minimum; Signalwirkung; Integration
der Schrift (Abb. 3);.voneinander abgesetzte,
reine Farben (Abb. 1, 4, 6); serielle Darstellungs-
methode (Prinzip der Reihung); Kombination von
semantischen Urelementen (Abb. 4, 5, 6).
Wie schon angedeutet und an einem Beispiel
näher erläutert, können auch weltanschaulich
wichtige Thesen und Bereiche verglichen werden.
Von der Kosmologie war schon die Rede, das
therapeutische Ziel einer lndividuation, die Auf-
hebung mancher Tabus, vor allem der Sexuali-
tät (Mithuna) und des Todes, die Emanzipation
der Frau (Shakti), sind Momente, die eine Wür-
digung des Tantrismus vorbereitet haben; nicht
zu vergessen die Sprachphilosophie (Chamsky,
Levi-Strauss, Whort, Wittgenstein, u. a.), die die
Mantra-Vidya nicht mehr nur als magischen
Humbug verkennen läßt.
Die physikalische Gleichsetzung von Materie und
Energie mit Hilfe des Faktors Lichtgeschwindig-
keit( ä- : m . c) entsprichtder mythischen Funktion
der Shakti-Prakriti, der Materie als Schöpfung
und ständigen Bewegung. Dadurch kommt der
Dynamik hier-heute wie damals-dort eine Be-
deutung zu, wie sie im Bildpaar 9-10 sichtbar
wird. Kinetische Objekte wie das von Graevenitz
(Abb. 10) bereiteten die Möglichkeit, auch einen
Textildruckstock, auf dem die Pfeile Energie an-
deuten, in einem Tantra-Kunstbuch abzubilden
(Abb. 9).
Es ist vielleicht zu früh, den Wandel der ästheti-
schen Einstellung in den letzten Jahren heute
schon historisch zu überblicken. Das mag nur
bei wesentlichen Neuerungen gelingen. Daß
Mookeriee 1971, sicher durch die hyperrealisti-
sche Pop-art motiviert, man denke an Duane
Hansan, Nancy Graves, John de Andrea oder
Alian Jones", eine Yogini (Abb. 8) abgebildet
hat, entspricht der damaligen Situation; genau-
so, daß erst 1975 eine Anzahl möglicher Shala-