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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIX (1984 / Heft 192 und 193)

Hans-Joachim Hubrich 
Die Kathedrale von Wells: 
Die Bedeutung von Fläche und 
Bauplastik in der englischen 
Frühgotik 
Anmerkungen 1 - 10 
' Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 1842, 539 11. 
l John Britton (Hg). Historicai and Descriptive Essays Accompanying a 
Series rJf E raved Speclmens 01 the Archltectural Antiquities of Nor- 
mandy. Lon n 1828; Edmund Sharpe, The Seven Perlods of English Ar- 
chitecture, London 1551 1 George Edmund Street. ITYIB Studyof Foreign 
GOITIIC Arohttecture and I1S intluence Ort English A111 in: Orbey Shipiey 
(HQJ. T119 Ohurch arld lhe Worid, London 1856. 
' Gecffrey Webb, Architecture in Brttain: The Middle Ages, The Pelican 
Historyof Art 1956; als Beispiele seien erwähnt: Chartres wird einmal. 
St, Denis in Paris gar nicht und die Selnte Chapeile zweimal genannt. 
f Zum Thema i-westiiche Schulen folgende Autoren: Francis Bond, Go 
thicArchiteclure in England. London 1906, 433; Francls Bcnd, An intro 
duction I0 English Ghurch Architecture, London, New York 1913. 474; 
Webb. 1956. 87 ff.; Henning Bock. Der Decorated Style, Heidelberg 
1962. 20. 56. 7d und 124; am ausluhrllchsten dazu: Harold Brakspear, 
A West COUMTYSCNOOI 01 Masons, Arcneeoiogla B1. 1931. 1 V 18. 
' Hans Janlzen, Die Gtilik des Abendlandes. Köln 1963. 50. 
' JBSVI Bony, French lnfiuences Un ErlgliSh Gothic Architecture. Journal 
01 the Warburg and Counauld Institutes 12. 1949. 7; Louis Grodecki, Ar- 
chitekturderGotik, 5111110311 1975. 195.Jean BonyJhe Ervglish Decora- 
ted Style. Phaidon 1919. 1. 
7 John Britton, T119 Hislory im! Anliquities 011118 Metropolitical Ohurch 01 
Canterbury. London 1821; Robert Willis, T119 Arcnitectural History 01 
CanterhuryCaDledral, London 1B45ICarleSCOt1omOfltle Burning snd 
Repairof lfte Gfturch 01 Canterbury in lhe Year1l74,Canterbury1930; 
John Harvey. English Medieval Architects down in 1550. London 1954. 
Francis Wclodman. The Architectural History o1 Canterbury Calhedral. 
London 1551. 
' C. M . Church, Reginaid. Bishop O1 Bath (1 174 - 1191),Archaeoldgia 50, 
1887. 295a359; C. M. Church, 50m8 Account O1 Savaric, Bishop ol 
Bath and Glastonbury 1192 - 1205. Archaeologia 51. 1888. 73 -106; 
C. M. Church, Jocelin. Blshop of Bath. 1206 -1242.Archaeologla sec. 
ser. 1, 1888. 281 - 346; J. Arrnitage Robinson. Documentary Evidence 
Relating fO the Bllildlng 01 lhS Cethedral CrtUrCh 01 Weiis (C. 1186- 
1242). Archaeological Journal 85. 1928. 1 V 22.1. Bllson, Notes on the 
earlierArchitectursl HislorycfWeIlsCathedral. ArcheeologicalJoumal 
a5, 192a, 23 - so; L. S Colchesier und J. H. Harvey. Weiis cathedral. 
Archaeologlcal Journal 131. 1914. 200- 214 
' Bllson. 1928. 50 n. 
1' Church, 18818011 
Als die Gotik gegen Ende des 18. und zu Beginn des 
19. Jahrhunderts wiederentdecktwurde, avancierte sie 
nicht nur zu einem anerkannten Stil, sondern erregte 
auch wegen der Verwandtschaft all ihrer Einzelformen 
die Bewunderung der Zeit. Goethe lobte an dem Straß- 
burger Münsterdie eine Empfindung, die die willkürlich- 
sten Formen zu einem charakteristischen Ganzen in 
Beziehung setze. Die Romantiker beschrieben die goti- 
schen Kathedralen wie Naturerlebnisse; ihre Aiigefühle 
und Architektureindrücke überdeckten sich. Als Franz 
Kugler sich 1842 in seinem vHandbuch der Kunstge- 
schichteri mit den Bauten der französischen und engli- 
schen Gotik auseinandersetzte, hatte er Mühe, den 
Geist und die Seele der Gotik insgesamt zu erfassen. 
"weil er die nationalen und regionalen Eigenarten durch- 
aus erkannte. Da er von der Einheitlichkeit eines be- 
stimmtenSystems herurteilte,mußteerdieSchwächen 
der einen wie der anderen Architektur mit in seine Be- 
schreibung einfließen lassen. So hielt für ihn die franzö- 
sische Gotik allzu sehr van den rohen Grundformenu 
fest, während die englische sich mehr als angemessen 
iiden Detailtormenrr zuwandte,' in der Kathedrale von 
Weiis sah er rein auffällig barbarisches Beispiel-t engli- 
scher Gotik, und zwar wegen der iiZwischenbauten-l 
und der nBogenstrebena, die den Eindruck des Raumes 
als ganzen beeinträchtigten. Weiis ist ein Bauwerk, das 
für die festländische Gotik nicht charakteristisch ist, 
das aber auch für die gesamte Entwicklung der eng- 
lischen Gotik bestimmend geworden ist. Daher hat es 
gegenüber der Kathedrale von Canterbury weniger Be- 
achtung gefunden, Englische Forscher wie John Brit- 
ton, Edmund Sharpe und George Edmund Streel haben 
sich sehrirüh mitden Beziehungen Englands zum Konti- 
nent auseinandergesetzt? andererseits werden in eng- 
lischsprachigen Handbüchern zur Gotikin England, wie 
in dem umfassenden Werk von Geoifrey Webb aus dem 
Jahre 1956, die Beziehungen Englands zu Frankreich 
und die parallelen Entwicklungen auf dem Festlande 
kaum erwähnt? 
Weiis ist eine der ersten frühgotischen Kathedralen 
Englands, die erste im Westen dieses Landes. die insge- 
samt im Stile des wEarly Englishu gebauiwurde. Hierent- 
wickelte sich gegenüber London und dem Südosten ei- 
ne Reihe bestimmter Stiieiemente im Kirchenbau. die 
mehrfach als typisch englisch bezeichnet worden sind, 
Ergebnisse regionaler Schuienf Trotz der engen Be- 
ziehungen zu Frankreich und den anderen großen Bi- 
schofsstädten Englands ist hier ein Kunstwolien er- 
kennbar. das sich deutlich von dem anderer Regionen 
abhebt. Da sich die ersten Ansätze zu einem gotischen 
Baudenken bereits kurz nach 1100 in der Normandie 
zeigten und da die Gotik sich als Stil um die Mitte des 
2. Jahrhunderts in der llede-France ausbiidete, ist zu 
untersuchen, ob die Frühgotik im Südwesten Englands 
Traditionen des Festlandes aufnahm oder weitgehend 
auf eigenen Traditionen fußen konnte. Das Problem 
stellt sich also. wie Jantzen es formulierte, inwiefern 
sich die Bauherren von Weiis nfrei wahiend zur Tradi- 
tionu verhalten haben und wieweit ein originales goti- 
sches Architekturdenken realisiert werden konnte? 
Um die relative Eigenständigkeit der Kunstiandschaft 
im Südwesten Englands ebenso wie die verschiedenen 
Einflüsse aus anderen Regionen und aus dem Ausland 
zu erfassen, ist es notwendig, im Hinblick aufdie Kathe- 
drale von Weiis die Baugeschichte, die schriftlichen 
Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts und die damals 
angewandten Techniken zu untersuchen. Louis Gro- 
decki und Jean Bony stimmen darin überein, daß das 
entscheidende erste Bauwerk der Gotik in England der 
wiederaufgebaute Chor der Kathedrale von Canterbury 
ist} Nach dem großen Brand vom 5. September 1174 
wurde dem Baumeister William of Sens, einem Franzo- 
sen, derWiederautbau in die Hände gelegt. Canterbury 
ist weder eine Kopie von Sens noch durch und durch 
französisch, so daß William ofSens, der spezifisch Eng- 
lisches aufnahm und anderes neu schuf, das dem engli- 
schert Empfinden wegen der zahlreichen Nachahmun- 
gen offenbar sehr nahe kam, zu diesem Zeitpunkt schon 
eine geraume Weile in England gelebt und sich mit der 
englischen Baukunst auseinandergesetzt haben muß. 
Doch Canterbury setzt die Gotik in der lle-de-France 
voraus. die mitSaint-Denis in Paris um ungefähr 40 Jah- 
re früher als in England begann. So stammen etwa das 
sechsteilige Gewölbe aus Sens, die Kapiteiie aus Paris 
und die frei um den Rundpfeiier gestellten Säulen aus 
Laon, Obwohl Canterbury zweifelsohne zahlreiche an- 
dere gotische Bauwerke in England anregte. bleibt zu 
untersuchen. inwieweit auch andere Bauten und Ein- 
flüsse dazu beitrugen, die Gotik in diesem Land zu ver- 
breiten. Canterbury ist durch Schriftquellen chronolo- 
gisch genau einzuordnenf Weiis, die erste gotische 
Kathedrale im Westen Englands und mit anderen Bau- 
ten in dieser Region in bezug auf Techniken und Stileie- 
mente eng verbunden, ist in seiner zeitlichen Einord- 
nung problematisch; doch haben neuere Forschungen 
von Coichester und Harvey eine genauere Datierung 
der Anfänge ermöglicht." 
Belegt ist die Amtszeitdes Bischofs von Bath und Weiis, 
Reginaid Fitzjocelin de Bohun. 1174 - 1191 . der selbst 
aus der Normandie stammte. Während seines Episko- 
pats wurde die aus jener Zeit noch weitgehend erhalte- 
ne Kathedrale von Weiis geplant und die ersten Bauab- 
schnitte durchgeführt. Sein Onkel, Richard de Bohun. 
war Bischof von Coutances, 1151 - 1179, sein Vater. 
Jocelin de Bohun. BischofvonSarum, 1141 - 1184. Un- 
gefähr drei Monate nach dem Brand der alten Kathe- 
drale wurde er in Canterbury in sein Amt eingeführt. 
Coichester und Harvey belegen den Beginn des Bau- 
werks in Weiis einmal durch Dokumente, die von Auf- 
wendungen für die neue Kirche von Weiis sprechen und 
die von Zeugen bestätigt sind. deren Lebenszeit oder 
Amtszeit zum Teil bekannt sind. zum anderen durch die 
Verwendung von Chilcote-Konglomerat, eines minder- 
wertigeren Steines aus der Umgebung von Weiis. Wäh- 
rend man für die Fundamente nur Doulting-Stein ver- 
wendete, wurden ab einer bestimmten Höhe beide 
Steinsorten zusammenvermauert,da derbessere Stein 
nach dem Feuer im Jahre 1184 auch von der Abtei Gla- 
stonburygebraucht wurde und in Weiis nicht mehr in be- 
liebigen Mengen zur Verfügung stand. Coichester und 
Harvey nennen 1 1 76 bis 1 1 86 als den möglichen Baube- 
ginn, wobei ein Zeitpunkt um 1180 als sehrwahrschein- 
lich angesehen wird. Die Kathedrale von Weiis wurde in 
der gleichen Zeit wie der Chor der Kathedrale von Can- 
terbury gebaut. Der Bau von Canterbury wurde mit der 
WeihederTrinity Chapel 1220 abgeschlossen, während 
der Bau von Weiis in der Zeit zwischen 1210 und 1220 
etwa auf der Hohe des Nordportals und bei den zwei 
nach Westen anschließenden Jochen unterbrochen 
wurde und die abschließende Weihe nach dem Bau der 
restlichen Joche und der Westfront erst 1239 stattfin- 
den konnte." Die Verschiedenartigkeit beider Bauwer- 
ke zwingt zu der Suche nach den Traditionen und Ein- 
fiüssen, die Weiis möglich gemacht haben. 
Die Entwicklung der Architektur in England war im 
12. Jahrhundert durch die politischen Verhältnisse be- 
hindert, andererseits immer wieder angeregt durch die 
engen Beziehungen zu Frankreich. Die Herrschaft des 
Stephan vcn Blois, 1135 - 1154, brachte eine gewisse 
Anarchie nach England. stärkte den Adel und blockierte 
größere Bauvorhaben. Der Kreuzzug von Richard Lö- 
wenherz, 1189- 1 199,schufebenfaiisUnruhe,weiider 
König wieder außer Landes war. Glastonbury wu rden in 
dieser Zeit die königlichen Gelder entzogen. Savaric. 
der Nachfolgervon Reginaid und nBischofvon Bath und 
Glastonbury-r, 1192 - 1205, begann einen langen 
Rechtsstreit mit Glastonbury, seit 1193 die 25 Jahre 
dauernde Fehde, die wohl auf beiden Seiten die Bautä- 
tigkeiten erheblich erschwerte."' Die Verbindung Eng- 
lande mit Frankreich war so eng, daß zu jener Zeit ein 
Großteil der führenden Geistlichkeit aus Frankreich 
stammte und religiöse Bewegungen aus Frankreich auf 
dem inselreich schnell Fuß fassen konnten. Durch Erb- 
schaft und Heirat entstand unter Heinrich ll. (1154 bis 
1189) das Angevinische Reich, das von Schottland bis 
zu den Pyrenäen reichte. Die Zisterzienser kamen 1128 
nach England und gründeten Ihre ersten Klöster in Wa- 
verley, Tintern, Flievauix und Fountains. Reginaid, der 
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