Hans-Joachim Hubrich
Die Kathedrale von Wells:
Die Bedeutung von Fläche und
Bauplastik in der englischen
Frühgotik
Anmerkungen 1 - 10
' Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 1842, 539 11.
l John Britton (Hg). Historicai and Descriptive Essays Accompanying a
Series rJf E raved Speclmens 01 the Archltectural Antiquities of Nor-
mandy. Lon n 1828; Edmund Sharpe, The Seven Perlods of English Ar-
chitecture, London 1551 1 George Edmund Street. ITYIB Studyof Foreign
GOITIIC Arohttecture and I1S intluence Ort English A111 in: Orbey Shipiey
(HQJ. T119 Ohurch arld lhe Worid, London 1856.
' Gecffrey Webb, Architecture in Brttain: The Middle Ages, The Pelican
Historyof Art 1956; als Beispiele seien erwähnt: Chartres wird einmal.
St, Denis in Paris gar nicht und die Selnte Chapeile zweimal genannt.
f Zum Thema i-westiiche Schulen folgende Autoren: Francis Bond, Go
thicArchiteclure in England. London 1906, 433; Francls Bcnd, An intro
duction I0 English Ghurch Architecture, London, New York 1913. 474;
Webb. 1956. 87 ff.; Henning Bock. Der Decorated Style, Heidelberg
1962. 20. 56. 7d und 124; am ausluhrllchsten dazu: Harold Brakspear,
A West COUMTYSCNOOI 01 Masons, Arcneeoiogla B1. 1931. 1 V 18.
' Hans Janlzen, Die Gtilik des Abendlandes. Köln 1963. 50.
' JBSVI Bony, French lnfiuences Un ErlgliSh Gothic Architecture. Journal
01 the Warburg and Counauld Institutes 12. 1949. 7; Louis Grodecki, Ar-
chitekturderGotik, 5111110311 1975. 195.Jean BonyJhe Ervglish Decora-
ted Style. Phaidon 1919. 1.
7 John Britton, T119 Hislory im! Anliquities 011118 Metropolitical Ohurch 01
Canterbury. London 1821; Robert Willis, T119 Arcnitectural History 01
CanterhuryCaDledral, London 1B45ICarleSCOt1omOfltle Burning snd
Repairof lfte Gfturch 01 Canterbury in lhe Year1l74,Canterbury1930;
John Harvey. English Medieval Architects down in 1550. London 1954.
Francis Wclodman. The Architectural History o1 Canterbury Calhedral.
London 1551.
' C. M . Church, Reginaid. Bishop O1 Bath (1 174 - 1191),Archaeoldgia 50,
1887. 295a359; C. M. Church, 50m8 Account O1 Savaric, Bishop ol
Bath and Glastonbury 1192 - 1205. Archaeologia 51. 1888. 73 -106;
C. M. Church, Jocelin. Blshop of Bath. 1206 -1242.Archaeologla sec.
ser. 1, 1888. 281 - 346; J. Arrnitage Robinson. Documentary Evidence
Relating fO the Bllildlng 01 lhS Cethedral CrtUrCh 01 Weiis (C. 1186-
1242). Archaeological Journal 85. 1928. 1 V 22.1. Bllson, Notes on the
earlierArchitectursl HislorycfWeIlsCathedral. ArcheeologicalJoumal
a5, 192a, 23 - so; L. S Colchesier und J. H. Harvey. Weiis cathedral.
Archaeologlcal Journal 131. 1914. 200- 214
' Bllson. 1928. 50 n.
1' Church, 18818011
Als die Gotik gegen Ende des 18. und zu Beginn des
19. Jahrhunderts wiederentdecktwurde, avancierte sie
nicht nur zu einem anerkannten Stil, sondern erregte
auch wegen der Verwandtschaft all ihrer Einzelformen
die Bewunderung der Zeit. Goethe lobte an dem Straß-
burger Münsterdie eine Empfindung, die die willkürlich-
sten Formen zu einem charakteristischen Ganzen in
Beziehung setze. Die Romantiker beschrieben die goti-
schen Kathedralen wie Naturerlebnisse; ihre Aiigefühle
und Architektureindrücke überdeckten sich. Als Franz
Kugler sich 1842 in seinem vHandbuch der Kunstge-
schichteri mit den Bauten der französischen und engli-
schen Gotik auseinandersetzte, hatte er Mühe, den
Geist und die Seele der Gotik insgesamt zu erfassen.
"weil er die nationalen und regionalen Eigenarten durch-
aus erkannte. Da er von der Einheitlichkeit eines be-
stimmtenSystems herurteilte,mußteerdieSchwächen
der einen wie der anderen Architektur mit in seine Be-
schreibung einfließen lassen. So hielt für ihn die franzö-
sische Gotik allzu sehr van den rohen Grundformenu
fest, während die englische sich mehr als angemessen
iiden Detailtormenrr zuwandte,' in der Kathedrale von
Weiis sah er rein auffällig barbarisches Beispiel-t engli-
scher Gotik, und zwar wegen der iiZwischenbauten-l
und der nBogenstrebena, die den Eindruck des Raumes
als ganzen beeinträchtigten. Weiis ist ein Bauwerk, das
für die festländische Gotik nicht charakteristisch ist,
das aber auch für die gesamte Entwicklung der eng-
lischen Gotik bestimmend geworden ist. Daher hat es
gegenüber der Kathedrale von Canterbury weniger Be-
achtung gefunden, Englische Forscher wie John Brit-
ton, Edmund Sharpe und George Edmund Streel haben
sich sehrirüh mitden Beziehungen Englands zum Konti-
nent auseinandergesetzt? andererseits werden in eng-
lischsprachigen Handbüchern zur Gotikin England, wie
in dem umfassenden Werk von Geoifrey Webb aus dem
Jahre 1956, die Beziehungen Englands zu Frankreich
und die parallelen Entwicklungen auf dem Festlande
kaum erwähnt?
Weiis ist eine der ersten frühgotischen Kathedralen
Englands, die erste im Westen dieses Landes. die insge-
samt im Stile des wEarly Englishu gebauiwurde. Hierent-
wickelte sich gegenüber London und dem Südosten ei-
ne Reihe bestimmter Stiieiemente im Kirchenbau. die
mehrfach als typisch englisch bezeichnet worden sind,
Ergebnisse regionaler Schuienf Trotz der engen Be-
ziehungen zu Frankreich und den anderen großen Bi-
schofsstädten Englands ist hier ein Kunstwolien er-
kennbar. das sich deutlich von dem anderer Regionen
abhebt. Da sich die ersten Ansätze zu einem gotischen
Baudenken bereits kurz nach 1100 in der Normandie
zeigten und da die Gotik sich als Stil um die Mitte des
2. Jahrhunderts in der llede-France ausbiidete, ist zu
untersuchen, ob die Frühgotik im Südwesten Englands
Traditionen des Festlandes aufnahm oder weitgehend
auf eigenen Traditionen fußen konnte. Das Problem
stellt sich also. wie Jantzen es formulierte, inwiefern
sich die Bauherren von Weiis nfrei wahiend zur Tradi-
tionu verhalten haben und wieweit ein originales goti-
sches Architekturdenken realisiert werden konnte?
Um die relative Eigenständigkeit der Kunstiandschaft
im Südwesten Englands ebenso wie die verschiedenen
Einflüsse aus anderen Regionen und aus dem Ausland
zu erfassen, ist es notwendig, im Hinblick aufdie Kathe-
drale von Weiis die Baugeschichte, die schriftlichen
Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts und die damals
angewandten Techniken zu untersuchen. Louis Gro-
decki und Jean Bony stimmen darin überein, daß das
entscheidende erste Bauwerk der Gotik in England der
wiederaufgebaute Chor der Kathedrale von Canterbury
ist} Nach dem großen Brand vom 5. September 1174
wurde dem Baumeister William of Sens, einem Franzo-
sen, derWiederautbau in die Hände gelegt. Canterbury
ist weder eine Kopie von Sens noch durch und durch
französisch, so daß William ofSens, der spezifisch Eng-
lisches aufnahm und anderes neu schuf, das dem engli-
schert Empfinden wegen der zahlreichen Nachahmun-
gen offenbar sehr nahe kam, zu diesem Zeitpunkt schon
eine geraume Weile in England gelebt und sich mit der
englischen Baukunst auseinandergesetzt haben muß.
Doch Canterbury setzt die Gotik in der lle-de-France
voraus. die mitSaint-Denis in Paris um ungefähr 40 Jah-
re früher als in England begann. So stammen etwa das
sechsteilige Gewölbe aus Sens, die Kapiteiie aus Paris
und die frei um den Rundpfeiier gestellten Säulen aus
Laon, Obwohl Canterbury zweifelsohne zahlreiche an-
dere gotische Bauwerke in England anregte. bleibt zu
untersuchen. inwieweit auch andere Bauten und Ein-
flüsse dazu beitrugen, die Gotik in diesem Land zu ver-
breiten. Canterbury ist durch Schriftquellen chronolo-
gisch genau einzuordnenf Weiis, die erste gotische
Kathedrale im Westen Englands und mit anderen Bau-
ten in dieser Region in bezug auf Techniken und Stileie-
mente eng verbunden, ist in seiner zeitlichen Einord-
nung problematisch; doch haben neuere Forschungen
von Coichester und Harvey eine genauere Datierung
der Anfänge ermöglicht."
Belegt ist die Amtszeitdes Bischofs von Bath und Weiis,
Reginaid Fitzjocelin de Bohun. 1174 - 1191 . der selbst
aus der Normandie stammte. Während seines Episko-
pats wurde die aus jener Zeit noch weitgehend erhalte-
ne Kathedrale von Weiis geplant und die ersten Bauab-
schnitte durchgeführt. Sein Onkel, Richard de Bohun.
war Bischof von Coutances, 1151 - 1179, sein Vater.
Jocelin de Bohun. BischofvonSarum, 1141 - 1184. Un-
gefähr drei Monate nach dem Brand der alten Kathe-
drale wurde er in Canterbury in sein Amt eingeführt.
Coichester und Harvey belegen den Beginn des Bau-
werks in Weiis einmal durch Dokumente, die von Auf-
wendungen für die neue Kirche von Weiis sprechen und
die von Zeugen bestätigt sind. deren Lebenszeit oder
Amtszeit zum Teil bekannt sind. zum anderen durch die
Verwendung von Chilcote-Konglomerat, eines minder-
wertigeren Steines aus der Umgebung von Weiis. Wäh-
rend man für die Fundamente nur Doulting-Stein ver-
wendete, wurden ab einer bestimmten Höhe beide
Steinsorten zusammenvermauert,da derbessere Stein
nach dem Feuer im Jahre 1184 auch von der Abtei Gla-
stonburygebraucht wurde und in Weiis nicht mehr in be-
liebigen Mengen zur Verfügung stand. Coichester und
Harvey nennen 1 1 76 bis 1 1 86 als den möglichen Baube-
ginn, wobei ein Zeitpunkt um 1180 als sehrwahrschein-
lich angesehen wird. Die Kathedrale von Weiis wurde in
der gleichen Zeit wie der Chor der Kathedrale von Can-
terbury gebaut. Der Bau von Canterbury wurde mit der
WeihederTrinity Chapel 1220 abgeschlossen, während
der Bau von Weiis in der Zeit zwischen 1210 und 1220
etwa auf der Hohe des Nordportals und bei den zwei
nach Westen anschließenden Jochen unterbrochen
wurde und die abschließende Weihe nach dem Bau der
restlichen Joche und der Westfront erst 1239 stattfin-
den konnte." Die Verschiedenartigkeit beider Bauwer-
ke zwingt zu der Suche nach den Traditionen und Ein-
fiüssen, die Weiis möglich gemacht haben.
Die Entwicklung der Architektur in England war im
12. Jahrhundert durch die politischen Verhältnisse be-
hindert, andererseits immer wieder angeregt durch die
engen Beziehungen zu Frankreich. Die Herrschaft des
Stephan vcn Blois, 1135 - 1154, brachte eine gewisse
Anarchie nach England. stärkte den Adel und blockierte
größere Bauvorhaben. Der Kreuzzug von Richard Lö-
wenherz, 1189- 1 199,schufebenfaiisUnruhe,weiider
König wieder außer Landes war. Glastonbury wu rden in
dieser Zeit die königlichen Gelder entzogen. Savaric.
der Nachfolgervon Reginaid und nBischofvon Bath und
Glastonbury-r, 1192 - 1205, begann einen langen
Rechtsstreit mit Glastonbury, seit 1193 die 25 Jahre
dauernde Fehde, die wohl auf beiden Seiten die Bautä-
tigkeiten erheblich erschwerte."' Die Verbindung Eng-
lande mit Frankreich war so eng, daß zu jener Zeit ein
Großteil der führenden Geistlichkeit aus Frankreich
stammte und religiöse Bewegungen aus Frankreich auf
dem inselreich schnell Fuß fassen konnten. Durch Erb-
schaft und Heirat entstand unter Heinrich ll. (1154 bis
1189) das Angevinische Reich, das von Schottland bis
zu den Pyrenäen reichte. Die Zisterzienser kamen 1128
nach England und gründeten Ihre ersten Klöster in Wa-
verley, Tintern, Flievauix und Fountains. Reginaid, der
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