seits Dante und Milton, er liest abwechselnd
über Astrologie und Astronomie, Chemie und
Alchimie, es erregen ihn die okkulten Wissen-
schaften ebenso wie die exakte Physik. Eine
Zeitlang unterliegt er der Mode eines Teils
der Wiener jugendlichen Boheme und schließt
sich der Natursehule des Maler-Philosophen
Diefenbach in Hütteldorf an; er versenkt sich
dort w in Toga und Sandalen - in Kontem-
plationen und versucht, den Sinn des Lebens
zu ergründen. Aber er meditiert nicht lange,
sondern versucht bald den Sinn des Lebens
anderswo zu finden. - Auf der Szene er-
scheint die erste für ihn verhängnisvolle
Frau, das „blonde Fluidum", wie sie Kupka
in einem Brief nennt: Frau Brühl, eine reife,
walkürenhafte Dänin, viel älter als der Maler,
seine erste Liebe, die ihn materiell unterstützt.
Kupka unterrichtet sie zuerst im Zeichnen,
später entwirft er für sie Kostüme. Ihre
Beziehungen entwickeln sich recht exaltiert.
Anfangs - im Geist der damaligen Mode -,
liest Kupka seinem grauäugigen Dämon aus
Plato und den Veden vor. Als die Dänin im
Jahre 1894 Wien verlaßt, verfolgt sie Kupka
auf einer sentimentalen Reise nach Berlin und
weiter über Bornholm, Sylt nach Norwegen,
Schweden und Dänemark. Trennungen und
Wiedersehen verleihen dieser ungleichen Be-
ziehung Spannung. Frau Brühl wohnt eine
Zeitlang bei Kupka in Paris und unterstützt
ihn, aber dieses hysterische Glück dauert
nicht lange. Die Dänin kehrt definitiv nach
Österreich zurück und stirbt bald darauf an
einem Krebsleiden in einem Sanatorium in
der Hinterbrühl. Sie verschwindet zwar aus
Kupka: Leben, taucht aber noch einige Male
in seinen Bildern auf, zuletzt in der Ballade
von den Freuden des Lebens, in einem in
der Art des Rubens naturalistisch aufgefaßtcn
Akt, einer blonden Frau zu Pferd (Abb. 2).
Kupkas Abgang von Wien, die augenblickliche
Lösung seiner moralischen und ökonomischen
Lebenslage, bedeutete für ihn keinen Abbruch
seiner Beziehungen zu diesem Kulturzentrum:
auf Einladung des Wiener Hagenbunds stellt
er dort einige Male aus, er behält seine alten
Freunde, vor allem Hanus Schweiger, an dem
ihm einerseits das kritische soziale Empfinden,
anderseits der Sinn für groteske Phantastik
imponieren. Er knüpft auch neue Freund-
schaften an, die bemerkenswerteste unter
ihnen ist die langjährige Beziehung zu J. S.
Machar, dem tschechischen Dichter und
Schriftsteller, der damals in Wien Bank-
beamter war. Die zehnjährige Korrespondenz
der beiden gibt einen recht guten Einblick
über ihre Beziehungen. Kupka vertraut sich
Machar mit allem an H mit seinen Liebes-
affären, seinen politischen Ansichten, seiner
Meinung über Literatur und seinen künst-
lerischen Planen. Er betrachtet Machar als
einen Gleichgroßen, zu denen er um das Jahr
1900 Leonardo, Baudelaire, Krapotkin und
sich selbst zählt. Er hat zu dieser Zeit mit
Machar denselben philosophischen Ausgangs-
punkt: der Kultus des Genies und der starken
Persönlichkeit, inspiriert von Nietzsche, ist
beiden gemeinsam. Beide verehren heidnische
Helden und sind Anhänger des Antikleri-
kalismus, sie lieben Symbolik, üben Kritik
40
an der Gesellschaft und hassen das Spießer-
tum
Im Jahre 1901 verbringt Kupka beinahe drei
Wochen bei Machar in Wien. Diese Zeit
genügt ihm, um bequem alles besichtigen zu
können, was dort auf dem Gebiet der Kunst
geschieht. Ein neuer Stern erster Größe beginnt
auf dem Kunsthimmel zu strahlen: Klimt.
Nach seiner Rückkehr nach Paris schreibt
Kupka an Machar: „Nehmen Sie dort in
Wien die Sezessionisten ein bißchen aufs
Korn, sie äffen den Engländern skandalös
nac ." Trotzdem ist der latente Einfiuß
Klimts bei Kupka vor allem in seinen biblio-
philen Illustrationen zum Lied der Lieder
(1905) und zu den Erinnyen (1906) zu spüren.
Klimt und Kupka gelangen nach und nach
bis an die Grenzen afigurativer Bilder. Auf
anderen Wegen und aus anderen Quellen. Der
Charakter von Kupkas Talent kann nie Klimts
Raffinement im Vortrag und im Material er-
reichen, Kupkas etwas schwerfällige Philo-
sophie bleibt bei ihm primär. Trotzdem
verbindet beide das Bewußtsein der Zeit
und das Bewußtsein verwandter Gedanken-
strömungen.
Kupkas Wiener Jahre sind also vor allem
seine philosophische Vorratskammer. Er ent-
scheidet sich damals für Schopenhauers und
Nietzsches Auffassung der Persönlichkeit, er
beginnt damals das Schlagwort zu prägen,
der Mensch sei identisch mit der Natur, die
sich ihrer selbst bewußt ist. Damals inter-
essieren ihn kosmologische Theorien sehr,
damals entwickelt sich aus seinem unbewußten
Rebellentum seine Sympathie für Anarchie.
Der Keim für sein ganzes künftiges reifes
Werk, das in umfangreichen Zyklen bald auf
die Entwicklung der lebenden Materie, bald
auf das Problem der Bewegung oder auf die
Frage der Geometrie des Kosmos reagiert,
war bereits in seinen Wiener Jahren im Suchen
der Gefühle und Ideen gelegt worden. Es
macht nichts, daß die Erkenntnisse, zu denen
er gelangte, nicht sofort und reif in seinen
Bildern realisiert werden konnten, aber diese
Erkenntnisse waren so tief und stark, daß sie
das Rückgrat seines Lebenswerkes werden
konnten, das nur auf den ersten Blick kontra-
diktorisch ist. Erst bei näherer Betrachtung
erkennt man das Streben nach innerer Ge-
schlossenheit und Verantwortung. Für Kupka
war das Niederreißen eine etwas zu billige
Geste. Er schrieb schon im Jahre 1902 sehr
präzis an Machar: „Hier in Paris sind g
ausgenommen den offiziellen Charakter der
Tätigkeit -, die, die erfinderisch sind, deka-
dent, während ein Mensch slawischen Cha-
rakters heute mit der allgemeinen Über-
sättigung nicht einverstanden sein kann, ihm
scheint es immer, daß Erde und Menschheit
noch lange weiter existieren werden, und daß
das alles etwas Neuem zustrebt. Daß wir auch,
wenn wir alte Traditionen niederreißen, die
Kraft haben können, etwas Neues aufzubauen.
Und wenn ich alles zu kritisieren verstehe,
habe ich doch auch das Bedürfnis, etwas zu
schaffen, selbst etwas zu bauen." Diese Worte
haben für alle seine Realisationen Geltung.
Sie sind auch der Schlüssel zu seinem ganzen
Werk.