398
Volkssitten und Bräuche. — Das ruthenische Volk hat neben seiner Sprache und
Nationaltracht auch seine Sitten und Bräuche im Großen und Ganzen bis auf den heutigen
Tag bewahrt, von denen viele auf religiöse und mythische Anschauungen einer vorgeschicht
lichen Zeit zurückweisen und zugleich als Beweis dienen können, mit welcher Anhänglichkeit
und Zähigkeit der Ruthene an dem Althergebrachten und von seinen Vätern Überlieferten
zu halten pflegt. Der Einfluß des Christenthums, das eifrige Bestreben der ruthenischen
Geistlichkeit, die heidnische Überlieferung entweder ganz zu beseitigen oder mit der christlichen
Lehre in Einklang zu bringen, hat zwar in den althergebrachten Volkssitten und Bräuchen
Manches geändert, Vieles ist der Vergessenheit zum Opfer gefallen; allein immerhin
treffen wir viele Sitten und Bräuche, welche wir als werthvolle Überreste der alten
Volksmythologie begrüßen können, obwohl die christliche Kirche denselben ihren Stempel
anfgedrückt oder dieselben zum Theile christianisirt hat.
Vor Allem wollen wir die häuslichen Sitten und Bräuche schildern.
Naht die schwere Stunde für die Wöchnerin heran, so wird die Wehmutter herbei
geholt, welche gewöhnlich mit einem Laib Brod in das Haus kommt und beim Eintritte
ein Gebet verrichtet. Hierauf wird die Wöchnerin, welche unterdessen Alles aufgeräumt
und in der Stube in Ordnung gebracht hat, dreimal rings um den Tisch geführt und
mit geweihten Kräutern beräuchert. Kommt das Kind zur Welt, so begibt sich der Vater
desselben in das Dorf, um Taufpathen (irumFh einzuladen, bei ärmeren Bauern ein Paar,
bei wohlhabenderen dagegen zwei oder mehr. Über dem Bett der Wöchnerin wird an der
Holzstange aus einem Leintuch ein Vorhang gezogen. Die Nachbarinnen und Verwandten
kommen zu Besuch und jede von ihnen bringt ein Geschenk für die Wöchnerin, wofür sie
dieselben gewöhnlich mit Branntwein (irosmäta) bewirthet. Die Pathen werden ebenfalls
mit Branntwein bewirthet und begeben sich sodann zur Taufe (adrastM^). Der Vater
bringt dem Geistlichen in der Regel ein Huhn und zwei Laib Brod, die Wehmutter trägt
das Kind und jedes Pathenpaar hält ein etwa meterlanges Stück Leinwand (ür/Lmo),
worauf das Kind bei der Taufe gelegt wird. Die Taufe wird so schnell als möglich
vorgenommen, um das Kind vor der Übermacht des bösen Geistes (ckicküo) zu schützen.
Nach dem Volksglauben kommt es nämlich vor, daß das Kind vom Teufel gestohlen und
gegen ein anderes (wiäminu) eingetauscht wird. Um dies zu verhüten, brennt an dem
Bett der Wöchnerin, bei welcher auch das Kind liegt, eine Kerze (in der Regel eine
dreiarmige trijeiu) von der Geburt des Kindes bis zur Taufe.
Aus der Kirche zurückgekehrt, übergeben die Gevattersleute das Kind der Wehmutter
mit den Worten: „Ihr habt uns das Kind geboren gegeben, wir bringen es getauft
zurück", und wünschen dabei den Eltern des Kindes Glück. Abends versammeln sich
die Gäste, die Weiber mit allerlei Nahrungsmitteln, die Männer dagegen mit Brod,