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Indien, seit ältesten Zeiten ein »koloniales’ Land, mit einer un
geheuer vielseitigen Kulturschichtung, ist schon früh in den Ruf
eines einseitig religionsinteressierten Landes gekommen, weil
viele altertümliche Gebräuche und bizarre Sektierereien von den
Reisenden übertrieben wurden, weil Kulibilder, am leichtesten er
werbbar und transportabel, unsere Museen füllten und weil, als
Folge davon, auch unsere Universitäten sich überwiegend mit
seiner religiösen Literatur beschäftigt haben. Was lag näher als
die Legende von einer indischen Kunst, die nur Symbolik, nur
Abstraktion, nur Mystik sei? Natürlich ist die religiöse Kunst In
diens, wie alle religiöse Kunst, aus mystischen Erlebnissen er
wachsen und in reiche mystische Symbolik getaucht. Natürlich
ist die überwältigende Mehrzahl noch stehender früher Monu
mente religiösen Charakters, weil, wie auch in anderen Ländern
und Kulturen, religiöse Denkmäler immer solider gebaut und
weniger zerstört oder auch nur vernachlässigt worden sind als
weltliche. Aber die Theorie wurde bald zu absurden Folgerungen
ausgesponnen bis zur völligen Verneinung der Evidenz der Denk
mäler wie der indischen Literatur als Ganzem, mit ihrer grofjen
Empfänglichkeit für alles Schöne und für alle Freuden des
Lebens.
Heute kehren wir zu einem ruhigeren Urteil zurück. Der Spaten
des Ausgräbers bringt auf ein religiöses Werk hundert weltliche
zutage. Die Ruinen Ceylons und Hinterindiens enthüllen Königs
paläste, welche den Palatin und Versailles in den Schatten
stellen. Die Historiker haben aus Tausenden von Inschriften eine
bewegte politische, wirtschaftliche und soziale Geschichte rekon
struiert, wo wir vor einem halben Jahrhundert kaum mehr als
wirre Mythen gekannt hatten. Die Kunst der Vergangenheit fügt
sich mehr und mehr in diesen Rahmen, und es zeigt sich, dafj sie
denselben Entwicklungstendenzen unterworfen gewesen war wie
diejenige anderer Länder. Und das moderne Indien lebt auf
dieser Erde.
Natürliche Voraussetzungen;
Die Kunst Indiens läljl sich am besten aus den natürlichen Lebens
bedingungen des Landes verstehen. Indien ist ein Subkontinent
Asiens, der tropischen und subtropischen Zone, dem regen
schweren üppig-fruchtbaren Monsungebiet des Südostens und
der trockenheifjen Wüstenregion des Vorderen Orients angehörig.
Beide Gebiete, durch den Indischen Ozean und die Gebirge
Assams, des Himalaya und Afghanistans zusammengeklammert,
sind innig ineinander verzahnt, weil Gebirge, Hochländer und
Tiefebenen die Klimazonen ineinander übergreifen lassen und
weil mit den Jahreszeiten Monsun- und Wüstenklima sich in
einem großen Teil des Landes halbjährlich ablösen. Die trockene
Hitze, im Nordwesten und in den mittleren Hochländern vor
wiegend, treibt die Menschen an das Wasser, hinter Mauern
oder unter Grund, verlangt leichte, aber den Körper und vor
allem den Kopf (Turban!) gegen die Sonne schützende Kleidung;
während des Tages erschöpft, lebt der Mensch um so intensiver
nachts auf. Aber die vibrierende, glühende Luft des Mittags wie
das Dunkel der Nacht schatfen eine sonderbare Mischung von
irrealer Phantasie und klarem logischem Denken. Der heifje
Dampf des Monsun wiederum macht luftige, möglichst hoch ge
legene und dem Wind ausgesetzte Räume zur Notwendigkeit,
öffnet sie der Natur, Pflanzen und vielerlei Getier, reduziert die
Kleidung auf ein Minimum, wirkt erregend und erschlaffend zu
gleich, führt zu aufbrausenden Gewalthandlungen und sexuellen
Exzessen und zu schnellem Zurückfallen in Lethargie und Pas
sivität, und diese Stimmung, verbunden mit dem weichen Dunst,
in den sich alle weitere Umgebung auflöst, fördert eine unendlich
reiche Phantasiewelt sinnlicher Gestalten. Während weniger
Wintermonate aber herrscht in einem grof;en Teil des Landes ein
gemäijigt warmes und trockenes Klima, wo nachts sogar Woll-
kleidung angenehm ist, wo die Atmosphäre klar, die Landschaft
weit werden kann, wo der Mensch nüchtern denkend und auljer-
ordentlich unternehmungslustig wird. Und schließlich im Hoch
gebirge, vor allem im Himalaya, herrscht das Glück der Weite,
wo der Blick die Gipfel des halben Subkontinents überblicken
kann, aus einem Ozean braunen Dunstes hochragend, unwirklich
in ihrer majestätischen Größe, wenn nicht gewaltige Wolken
massen sie einhüllen. Diesen Gegensätzen aber entspricht die
Dynamik der indischen Kulturwelt, Unterwerfung unter die Natur
und übermenschenideal, wildeste Phantasie und haarspaltende
Dialektik oder zynischster Realismus, alles beherrschende Sinnlich
keit und sie kontrollierende Disziplin, ja äußerste Askese, Lebens
freude und Lebensverneinung, Nafurgenuß und Abstraktion.
Kultureller Hintergrund;
Ebenso nimmt Indien an zwei Kulturtraditionen teil, derjenigen
des Urwalds und jener der Trockenländer. In dem Urwald wächst
das Dorf, umgeben von Reisfeldern und Bananenpflanzungen, eng
in seinem Gesichtskreis, erdgebunden, Schlangen, Fruchtbarkeit