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Petr Stembera, Der Weg, 1977
und Fü3en an einem Nylonseil in einem großen Dachboden
aufhängen ließ, die Augen mit einem schwarzen Schai ver
bunden und die Ohren mit Wachs zugestopft. Vielleicht kann
die Aktion, die Petr Stembera am 5. September 1977 in der
Galerie Repassage in Warschau durchführte, veranschauli
chen, was es hieß, als tickende Zeitbombe zu leben:
Mit auf den Rücken gefesselten Händen zog sich Stem
bera auf dem Bauch entlang zweier Linien aus schwarzem
und weißem Pulver, von denen je eine für jedes Bein
bestimmt war, über den Fußboden. Mühsam versuchte er,
das Ende dieser Linien zu erreichen, aber während er vor
wärtsrobbte, goß ein Assistent Säure auf die Schnüre, die
er an seinen nackten Füßen hinter sich herzog. Die Säure
fraß die Schnüre langsam auf, so daß, wie bei einer gezün
deten Zündschnur, die Säurespritzer seinen nackten, mit
den Sohlen nach oben gedrehten Füßen immer näher
kamen. Würde er es schaffen, das Ende der Pulverlinien
zu erreichen, bevor die Säure die Schnüre an seinen
Füßen wegätzte? im selben Jahr, 1978, balancierte er sein
Kinn auf einer dünnen Glasscheibe und schob diese so
überden Boden.’'’’
MIcoch war bis zu dem Zeitpunkt, als er Stemberas Aktionen
miterlebte, nicht künstlerisch tätig gewesen. »In den frühen
Siebzigern, nach der sowjetischen Besatzung, fühlten wir uns,
als »fielen wir durch die Zeit«, und ich hatte das Bedürfnis, in
unserer formlosen Gegenwart einige Fixpunkte für mich selbst
zu schaffen«, erklärte MIcoch.”'® Stembera und MIcoch leg
ten den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die für sie entschei
denden Elemente »physische Präsenz« und »Selbsterkennt
nis«. Sie machten Kunst, mit der sie aus einer persönlichen
Dringlichkeit auf ihre Notsituation reagierten.
Von 1966 an war Stemberas Malstil durch den spanischen
Maler Tapies beeinflußt gewesen, nach einem Paris-
Aufenthalt während des Prager Frühlings jedoch schlug er
eine andere Richtung ein. Zwei Jahre lang arbeitete der
Künstler mit seinem eigenen Blut, ein Versuch, »zu entschei
den, was zu tun sei«; er machte Yoga und erprobte unter
schiedliche asketische Lebensweisen. Diese Unterwerfung
unter strenge physische Regeln kann als eine Art persönli
ches Ausdauertraining verstanden werden. »Es ist wichtig««,
erklärte er mir, »für diese psycho-physische Aggression
gewappnet zu sein: gewappnet mit Meditation und Yoga.«
Stemberas erste »Körperaktion« von 1971 bestand in einem
einfachen Ausflug aufs Land, wo der Künstler »viele schwere
Steine«« sammelte, die er mit zurück in die Stadt nahm. Im
Jahr 1974 hatten seine Aktionen zunehmend rituellen
Charakter angenommen. In Narziß Nr. 1, beispielsweise,
einer Aktion, die Stembera im Dezember 1974 durchführte,
Stand der Künstler vor seinem Porträt, das auf einem impro
visierten, mit Kerzen erleuchteten »Altar« aufgestellt war.
Nachdem er das Porträt lange angesehen hatte, kam MIcoch
und nahm ihm mit einer Spritze Blut ab. Stembera mischte
das Blut mit seinem Urin, ein paar Haaren und seinen abge
schnittenen Nägeln, und trank die Mixtur vor dem Altar. Solch
eine Aktion erinnert an schamanistische und Voodoo-
Praktiken zur Steigerung der eigenen Macht, zur Abwehr
böser Geister und ganz allgemein zum Schutz der Seele. In
Aufpfropfen, einer Aktion vom April des darauffolgenden
Jahres, versuchte Stembera, seinem Körper eine Pflanze
aufzupropfen (wobei er sich der üblichen Pfropfmethode der
Gärtner bediente und auch deren giftige Pfropfsubstanzen
verwendete); hierzu erklärte er, er wolle »in Kontakt mit der
Pflanze treten, sie in meinen Körper bringen, so lange wie
möglich mit ihr zusammen sein«. Die Verzweiflung, die diese
Aktionen eindeutig vermitteln, lag nicht in der Absicht des
Künstlers. Stembera glaubte: »Es ist eine Frage der Stellung,
die ein Mensch innehat - ist er ein Niemand (wie ich) oder ist
er bekannt? Für denjenigen, der bekannt ist, wäre die Aktion
eine politische gewesen, nicht so für mich.«
Klarerweise verstanden sich Stembera Aktionen nicht in
einem öffentlichen Sinn als »politisch«, waren sie doch zum
Teil von östlicher Philosophie und Existentialismus beeinflußt
(insbesondere vom Werk Gabriel Marcels), was laut Stem
bera damals »sehr schick« war. Darüber hinaus las der
Künstler auch Literatur über Zen sowie Marshall McLuhans
Informationstheorie; er erinnert sich:
Die Essenz all dieser Ideen war die Entdeckung des eige
nen Körpers, der physischen Erfahrung und der Tatsache,
daß man ein physisches Wesen in dieser Welt ist. Ich
sollte jedoch betonen, daß keine dieser Studien beson
ders tief ging. Mein Interesse galt der Definition meiner
177 Roland Miller, »The Curtain Rises«, in: Variant 12.199, S. 20-21. 178 Jan Micoch, zitiert in Vytvarne Umeni: The Magazine for
Contemporary Art, 3/91,1991, S. 77.