Wiener Genesis (Thecl. gr. 31)
„Wiener Genesis" in Betracht (Cod. Theol. gr. 31). Was die Hofbibliothek
von dem ursprünglichen Exemplar dieser Bilderbibel besitzt, sind freilich
nur mehr 24 Blätter mit 48 Illustrationen, aber auch diese Fragmente sind
von ganz einzigem Wert als Reliquien einer der ältesten Bilderhandschriften,
die bisher bekannt geworden sind.
Schrift und Illustrationen der Purpurblätter gehören noch dem V. Jahr-
hundert an. Die goldenen und silbernen Unzialbuchstaben sind treftliche
Erzeugnisse der griechischen Kalligraphie, die Bilder selbst Denkmäler der
Kunst der ausgehenden Antike. Indem die Wiener Genesis an die Formen
dieser Kunst anknüpft, neue Typen, insbesondere zur Darstellung biblischer
Geschichten schafft, bildet sie das wichtigste uns erhaltene Spezimen alt-
christlicher Kunst, ist aber auch in anderer Beziehung ein sehr merkwürdiges
Denkmal in der Geschichte bildlicher Darstellung. Die ältere klassische Kunst
war gewohnt, einen bestimmten Augenblick einer Handlung im Bilde festzu-
halten. Mit den Schildereien der späteren römischen Sarkophage beginnt
eine andere bildliche Darstellungsart. Die Erzählung setzt sich fort, das
zeitliche Nacheinander erscheint als ein örtliches Nebeneinander, und dieselbe
31'
43x:
Person tritt im Bilde
wiederholt, und
zwar in wechselnden
Szenen, von wech-
selnden Gruppen
umgeben, auf. Die
reichste Entfaltung
dieser „k0ntinuie-
renden Erzählungs-
weise" (im Gegen-
satz zu der uns heute
geläufigen distin-
guierenden) treffen
wirauf den einzelnen
Reliefs der riesigen
Spirale der Trajans-
säule, die den Kaiser
mehr als neunzigmal
auf dem einen gigan-
tischen Bande dar-
stellt.
Dieselbe kon-
tinuierende Erzäh-
lungsweisebeobach-
Dißskvrides (Mßd. gr- 1) ten auch die Illustra-
toren der Wiener
Genesis: sie knüpfen, wie man sieht, an die spätere römische Kunst an
und leiten herüber zu Beispielen kontinuierender Darstellung, die bis zum
XVI. Jahrhundert gar häufig anzutreffen sind. Keines der 48 Bilder der
Genesis verleugnet die hier gekennzeichnete Stellung in dem Übergange der
antiken zur mittelalterlichen Kunst: die sprechendsten Belege hiefür bilden
die beiden in den Reproduktionen vorgelegten Blätter, die Illustration zu
Genesis XXIV, 15-203 und XXXIX, 11-14".
Es genügt, die Worte des Bibeltextes mit dem Bilde Rebekka am Brunnen
zu vergleichen, um sofort zu sehen, wie in bildlich gedrängter Weise die
kontinuierende Darstellung zum Ausdruck gelangt. Rebekka kommt aus der
"Gen. XXIV, 15. Da kam heraus Rebekka . . . und trug einen Krug auf ihrer Achsel. 16. Und sie
war eine sehr schöne Dirne von Angesicht . . . Die stieg hinab zum Brunnen, und Fiillete den Krug, und stieg
herauf. 17.Da lief ihr der Knecht entgegen, und sprach: Lass mich ein wenig Wasser aus deinem Kruge trinken.
1B. Und sie sprach: Trinke, mein Herr; und eilend liess sie den Krug hernieder auf ihre Hand, und gab ihm zu
trinken. 19. Und da sie ihm zu trinken gegeben hatte, sprach sie: Ich will deinen Kameelen auch schöpfen, bis
sie alle getrunken. zu. Und eilete, und goss den Krug aus in die Tränke, und lief aben-nal zum Brunnen zu
schöpfen und schöpfete allen seinen Kameelen.
"Gen. XXXIX, 11. Es begab sich der Tage einen, dass Joseph in das Haus ging, seine Geschäfte
zu thun; und war kein Mensch vom Gesinde des Hauses dabei. 12. Und sie erwischte ihn bei seinem Kleide
und sprach: Schlafe bei mir. Aber er liess das Kleid in ihrer Hand und Hohe, und lief zum Hause hinaus. 13. Da
sie nun sahe, dass er sein Kleid in ihrer Hand liess, und hinaus entfluhe, 14. Rief sie das Gesinde im Hause etc.