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Volltext: Monatszeitschrift V (1902 / Heft 5)

Wiener Genesis (Thecl. gr. 31) 
„Wiener Genesis" in Betracht (Cod. Theol. gr. 31). Was die Hofbibliothek 
von dem ursprünglichen Exemplar dieser Bilderbibel besitzt, sind freilich 
nur mehr 24 Blätter mit 48 Illustrationen, aber auch diese Fragmente sind 
von ganz einzigem Wert als Reliquien einer der ältesten Bilderhandschriften, 
die bisher bekannt geworden sind. 
Schrift und Illustrationen der Purpurblätter gehören noch dem V. Jahr- 
hundert an. Die goldenen und silbernen Unzialbuchstaben sind treftliche 
Erzeugnisse der griechischen Kalligraphie, die Bilder selbst Denkmäler der 
Kunst der ausgehenden Antike. Indem die Wiener Genesis an die Formen 
dieser Kunst anknüpft, neue Typen, insbesondere zur Darstellung biblischer 
Geschichten schafft, bildet sie das wichtigste uns erhaltene Spezimen alt- 
christlicher Kunst, ist aber auch in anderer Beziehung ein sehr merkwürdiges 
Denkmal in der Geschichte bildlicher Darstellung. Die ältere klassische Kunst 
war gewohnt, einen bestimmten Augenblick einer Handlung im Bilde festzu- 
halten. Mit den Schildereien der späteren römischen Sarkophage beginnt 
eine andere bildliche Darstellungsart. Die Erzählung setzt sich fort, das 
zeitliche Nacheinander erscheint als ein örtliches Nebeneinander, und dieselbe 
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43x: Person tritt im Bilde wiederholt, und zwar in wechselnden Szenen, von wech- selnden Gruppen umgeben, auf. Die reichste Entfaltung dieser „k0ntinuie- renden Erzählungs- weise" (im Gegen- satz zu der uns heute geläufigen distin- guierenden) treffen wirauf den einzelnen Reliefs der riesigen Spirale der Trajans- säule, die den Kaiser mehr als neunzigmal auf dem einen gigan- tischen Bande dar- stellt. Dieselbe kon- tinuierende Erzäh- lungsweisebeobach- Dißskvrides (Mßd. gr- 1) ten auch die Illustra- toren der Wiener Genesis: sie knüpfen, wie man sieht, an die spätere römische Kunst an und leiten herüber zu Beispielen kontinuierender Darstellung, die bis zum XVI. Jahrhundert gar häufig anzutreffen sind. Keines der 48 Bilder der Genesis verleugnet die hier gekennzeichnete Stellung in dem Übergange der antiken zur mittelalterlichen Kunst: die sprechendsten Belege hiefür bilden die beiden in den Reproduktionen vorgelegten Blätter, die Illustration zu Genesis XXIV, 15-203 und XXXIX, 11-14". Es genügt, die Worte des Bibeltextes mit dem Bilde Rebekka am Brunnen zu vergleichen, um sofort zu sehen, wie in bildlich gedrängter Weise die kontinuierende Darstellung zum Ausdruck gelangt. Rebekka kommt aus der "Gen. XXIV, 15. Da kam heraus Rebekka . . . und trug einen Krug auf ihrer Achsel. 16. Und sie war eine sehr schöne Dirne von Angesicht . . . Die stieg hinab zum Brunnen, und Fiillete den Krug, und stieg herauf. 17.Da lief ihr der Knecht entgegen, und sprach: Lass mich ein wenig Wasser aus deinem Kruge trinken. 1B. Und sie sprach: Trinke, mein Herr; und eilend liess sie den Krug hernieder auf ihre Hand, und gab ihm zu trinken. 19. Und da sie ihm zu trinken gegeben hatte, sprach sie: Ich will deinen Kameelen auch schöpfen, bis sie alle getrunken. zu. Und eilete, und goss den Krug aus in die Tränke, und lief aben-nal zum Brunnen zu schöpfen und schöpfete allen seinen Kameelen. "Gen. XXXIX, 11. Es begab sich der Tage einen, dass Joseph in das Haus ging, seine Geschäfte zu thun; und war kein Mensch vom Gesinde des Hauses dabei. 12. Und sie erwischte ihn bei seinem Kleide und sprach: Schlafe bei mir. Aber er liess das Kleid in ihrer Hand und Hohe, und lief zum Hause hinaus. 13. Da sie nun sahe, dass er sein Kleid in ihrer Hand liess, und hinaus entfluhe, 14. Rief sie das Gesinde im Hause etc.
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