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Schnütgen:
sie in ikonographischer und culturgeschichtlieher Beziehung! Auch die
technische ist nicht zu vergessen, obwohl sie für unsere Besprechung in den
Hintergrund tritt. Sie bilden desswegen schon seit langer Zeit, namentlich
aber seit einigen Jahren den Gegenstand sorgfältigster Forschung, deren
bedeutungsvolle Frucht ein eminenter Fortschritt in Bezug auf die Kennt-
niss der karolingischen Malerei, ihres Ursprunges und ihrer Entwickelung
ist. In dem Codex millenarius von Kremsmünster klingen noch klassische
Reminiscenzen nach neben den irischen Einflüssen, die ihn beherrschen und
wie in der einfachen Färbung, so namentlich im Ornament sich geltend
machen bis zu den Fischmotiven, aus denen die Buchpulte der Evange
listen sich zusammensetzen. Auch in den blattgrossen Purpurinitialen der
Evangeliarien aus Prag und Göttweih wirkt dieser Einfluss noch nach,
während der Wyssehrader Codex in seinen schwungvollen Initialen, wie in
seinen grossen figürlichen Darstellungen ganz selbstständige Gestaltung
zeigt. Wie er mit zwei anderen Evangeliarien das XI. Jahrli. vertritt,
zeigen ein Brevier, Ceremoniale, Missale die eigenartige Behandlung, welche
das XII. Jahrh. in der Contour- und colorirten Federzeichnung pflegte.
Diese steigert sich noch im XIII. Jahrh., welches reich vertreten ist. Den
Glanzpunkt aber in der langen Serie der illuminirten Codices bilden fünf
Manuscripte aus dem Anfänge des XIV. Jahrh.: die „Walialaw’s Bilder-
bibeP 1 , das „Passiouale der Aebtissiu KunigundeK r die berühmte. Biblia
pauperum aus St. Florian, das Speculum liumanae salvationis aus Krems
münster und die Concordantia caritatis aus Lilienfeld. Die Bilderbibel
enthält 188 Blätter und auf jeder Seite zwei Bilder aus dem alten und
neuen Testamente, die noch manche romanisirende Reminiscenzen aufweisen,
eine wahre Fundgrube für die Archäologie uud ihre Ilülfswissenschaften.
Noch viel besser als hier sind die zahlreichen ganz ausgemalten und voll
ausgereiften frühgothischen Darstellungen in dem Passionale, künstlerisch
wie ikonographisch in dieser Periode nur noch von der nebenanliegenden
Bilderbibel übertroffen mit ihren überaus edlen und zarten Umrisszeichnungen.
Sie ist längst facsimilirt und nur auffallend, dass sie von den Künstlern
bei der Ausstattung von Kirchen und von Büchern so wenig benutzt wird.
Ihr schliessen sich Speculum und Concordantia wie ihrem Inhalte, so ihrer
künstlerischen Bedeutung nach würdig an. Neben diesen vornehmlich der
Belehrung dienenden Büchern stellte schon das XIV. Jahrh. die für den
Chorgesang bestimmten in den Vordergrund, in denen der Initial zu neuem
die ganze Illustration beeinflussenden Leben ersteht und die Randver
zierungen ihre glänzende Laufbahn beginnen. Hier mischen sich unter die
deutschen Produkte bereits die italienischen und burgundischen, nachdem
die französischen schon früher eingetreten waren. Die Manuscripte, welche
nicht dem officiellen kirchlichen Gebrauche, sondern der Privat-Andacht
dienten in Form von Gebetbüchern, Horarien, livres d’heures, zeichnen sich