Bekleiduagsartikel.
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Bei rationellem Betrieb sollte es jedenfalls möglich sein, den Be
darf des Inlandes an Bekleidungsgegenständen zu decken.
Man weiss, dass gerade die Schuhe bei uns die Hälfte theurer
sind als in Wien; man kauft dort um Fr. 16 ein Paar Bottinen, welche
in der Schweiz mit Fr. 24 bezahlt werden müssen.
Manchen Hausvater drückt die Anschaffung des Schuhwerkes für
seine Familie fast schwerer als das tägliche Brod. Wir erkundigten uns
desshalb speziell nach der Ursache dieser hohen Preise und erhielten die
Erklärung, dass die Schweizer Schuhe durchschnittlich viel besseres Le
der, bessere Garnirung und bessere Arbeit haben als das Wiener Fabri
kat. Dieses Zeugniss hat uns mit unseren theuren Schustern wieder et
was versöhnt.
Wir haben beim Abschnitte über die Maschinenstickerei erwähnt,
dass die Erfindung der Nähmaschine eine ganz neue Fabrik-Industrie
ins Leben gerufen habe, nämlich die Lingerie. Während früher die
Frauen ihren Bedarf in Weisszeug meistens selbst erstellten und im La
den einfach einige Ellen Stoff und Stickereien kauften, wird die Linge
rie heute fabrikmässig fabrizirt und hat sich binnen ca. 10 Jahren zu
einem bedeutenden Handelsartikel entwickelt.
Die grossen Städte Paris, London, Manchester, Glasgow, Berlin
und New-York sind fast ausschliesslich der Sitz dieser neuen Industrie.
Man findet dort im Bürgerstand Tausende von Frauen, welche froh sind,
irgend einen Nebenverdienst zu haben, der mithilft die Kosten des Le
bensunterhalts aufzubringen. Die Arbeit wird exacter und durchschnitt
lich billiger geliefert als durch Leute, die ganz davon leben müssten.
Wir schätzen den Umsatz der Lingerie-Industrie dieser Städte auf
allermindestens 200 Millionen Franken.
Paris spielt im ganzen Bekleidungsgeschäft noch immer die ton
angebende Rolle. Es wurde allerdings unmittelbar nach dem letzten
Kriege in die Welt hinaus posaunt Deutschland wolle sich dem Joch
der französischen Mode entziehen und selbständig werden. Wirklich
versammelte sich auch in Berlin ein Congress, der diese hochwichtige
Weltfrage zu berathen hatte. Wir kennen dessen Beschlüsse nicht, aber
das wissen wir, dass es in Berlin keinen Confectionsfabrikanten gibt,
der nicht alle Jahre mehrere Male nach Paris fährt, um dort auf allen
möglichen Umwegen zu erfahren, was die Franzosen wieder für eine
Mode bringen werden; London, Wien, New-York warten mit ihrer Fabri
kation bis Paris gesprochen hat, ob Tunique oder Polonaise, Spitzen oder
Stickereien, Leinen oder Wollstoffe der mit Spannung harrenden Damen
welt als das Neueste ausgeboten werden sollen. Die stolze Seinestadt
hat wohl für viele Jahre den politischen Scepter über Europa ver
loren, dagegen wird ihr ohne Zweifel noch lange die unbestrittene Herr
schaft über die gesammte textile Industrie, welche für die vermöglichern
Classen arbeitet, bleiben.