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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

ÜBER DIE LESERLICHKEIT. 
VON RUDOLF VON LARISCH. 
(Fortsetzung aus Heft 9, Seite 172, und Schluß.) Jeder 
von diesem Tausend wird sofort, ohne es je im Leben ver^ 
sucht zu haben, ein L, ein K, ein 0, ein T aus dem Ge^ 
dächtnisse leidlich graphisch darstellen können. 
Das Wort' und Silbenlesen bei der Antiqua aber bietet 
gleichfalls eher Vor' als Nachteile. 
Der Unterschied zwischen Antiqua und Fraktur nach dieser 
feststehenden Beurteilungsweise ist also ein sehr bedeutender, 
er ist meßbar und unverrückbar, er zeigt uns den gesuchten 
festen Maßstab zur Beurteilung der Leserlichkeit einer Schrift. 
Dieser Maßstab wird uns übrigens besonders gute Dienste 
leisten da, wo fremdartige Alphabete vorliegen. Eine Schrift' 
art mag uns noch so seltsam anmuten, die Beziehung und 
Unterscheidung der Buchstaben UNTEREINANDER zu be' 
urteilen, wird stets in unserer Macht bleiben. Diese Er' 
kenntnis aber wird sich bei der Gewinnung eines Urteils 
über die ABSOLUTE Leserlichkeit einer solchen Schrift 
auch immer bewähren. 
Hier möchte ich noch eines Punktes meiner Unterrichtsweise 
erwähnen, der uns das Verständnis dieses Maßstabes und 
seiner Verläßlichkeit näher bringt. Um die individuelle Note 
der ornamentalen Handschrift meines Schülers und seine 
Schreibbegabung unverkümmert entfalten zu lassen, wird 
er — besonders im Anfänge — von der Benützung irgend' 
welcher Schriftvorlagen aufs ängstlichste behütet. Bei dem 
nun aus dem Gedächtnisse in einem Zuge und in der ein' 
fachsten Gestalt hinzusetzenden Buchstabenschreiben bevor' 
zuge ich das ZURÜCKGEHEN AUF DIE PRIMITIVSTE 
DARSTELLUNGSART: d. i. die des Ritzens.* Es entspricht 
dies dem Ursprung alles Schreibens, wie schon die ver' 
schiedenen Worte: to write, scribere, schreiben, graben, 
grapho u. s. w. andeuten. Die Einfachheit des Schreibwerk' 
zeuges nun wirkt auf die Einfachheit des Schriftduktus 
zurück und diese wieder begünstigt die Betonung der Unter' 
schiede unter den einzelnen Buchstaben. Der ritzende Griffel 
macht jeden Strich gleich dick, es erscheinen daher alle 
Striche gleich wichtig. Die Feder dagegen geht bereits davon 
ab, sie macht Schatten' und Haarstriche, also wichtige und 
weniger wichtige Buchstabenglieder. Damit aber legt sie den 
Keim zur Unleserlichkeit im ABSOLUTEN Sinne. 
Und es ist gewiß nicht ohne Bedeutung, daß in den letzten 
Dezennien die Typen — selbst bei fetten Buchstaben — die 
dünnsten Haarstriche aufweisen. Ist es doch die Zeit des 
Tiefstandes im Schriftwesen, die Zeit der Schreckensherr' 
schaff der „Prachtwerke“, die Zeit der plastisch und per' 
spektivisch dargestellten Buchstaben, die Zeit also, da sogar 
das Gefühl abhanden gekommen war, daß die Schrift Flächen' 
kunst ist. * * 
* 
Und nun wieder zurück von diesen Zukunftsträumen 
sonniger Einfachheit zu den trüben Niederungen der ver' 
schnörkelten Frakturschrift unserer Tage! 
Wie kommt es denn, so höre ich längst schon fragen, daß 
wir unsere Romane und Zeitungen doch so rasch und gut 
lesen können? 
Als Antwort folgender Vergleich: Hast du je zu jonglieren 
versucht? Zwei Ballen oder Äpfel werfen, treffen viele, drei 
* Mit dem Griffel in weichem Material und auf dünnen, weich unter- 
legten Blechen oder bei graphischer Darstellung mit dem sogenannten 
Quellstifte. 
schon wenige, vier erscheint bereits verblüffend schwer, 
wenn man's sieht, und zehnmal schwerer, wenn man’s ver' 
sucht. Und wie weit ist’s von da noch zum Virtuosen oder 
gar zu den im Schwarme Messer schleudernden Japanern. 
Der Schlüssel zu dieser unabsehbaren Abstufung ist die 
Übung von Kindheit auf. 
Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen unserer Frakturtype. 
Diese durch den Einfluß des Industriellen und des Handels' 
mannes bis zur Jämmerlichkeit verblaßte und verkommene 
Gotik „jongheren“ wir alle seit frühester Jugend in so 
reichem Maße, daß wir diese unleserliche und verschnörkelte 
Schrift schließlich fließend lesen können. Wenn man aber 
bedenkt, welche Anstrengung unserem Auge allein schon 
damit zugemutet wird, aus dem kleinen, dünnen, kaum sicht' 
baren Querstrichlein den Unterschied zwischen Ultimtm u. s. w. 
zu erfassen oder die ähnlich verschlungenen SB, SS zu unter' 
scheiden, so erkennt man den Hauptgrund, warum eine so 
große Anzahl der Deutschen schon in jungen Lebensjahren 
kurzsichtig wird. 
Es ist dies ein Übel, das sich naturgemäß in erschreckender 
Weise steigern und zur geringeren Wehr' und Seetüchtigkeit 
des deutschen Volksstammes führen muß. 
In deutschen Landen, wo in den Elementarklassen die 
Antiquabuchstaben erst gelehrt werden, wenn die Fraktur 
mit vieler Mühe bereits überwunden ist, kann es nicht leicht 
zu einem Vergleich bezüglich der Schwierigkeit im Erlernen 
dieser beiden Schriftarten kommen. In Ländern aber, die 
bereits zur Antiqua übergegangen sind, wie Schweden u. s. w., 
und wo in den Schulen das Alphabet beider Typen gleich' 
zeitig durchgenommen wird, sprechen die Kinder selbst von 
der „schweren“ und von der „leichten Schrift“, wobei sie 
die Fraktur als schwer und die Antiqua als leicht bezeichnen. 
Einigermaßen gemildert werden alle diese ernsten Vorwürfe 
durch die bereits angestellten Erwägungen über das Er' 
fassen, beziehungsweise Erraten ganzer Wortbilder. Wer aus 
dem Stadium des BUCHSTABENlesens zum „Lesen“ der 
SILBEN UND WORTSILHOUETTEN übergegangen ist, 
genießt auch bei der Frakturschrift den Vorteil des Unter' 
scheidens der einzelnen WORTgestalten. 
Zu hoher Not dagegen wird das Übel gesteigert durch die 
Art und Weise, wie wir mit dieser Fraktur drucken, wie 
wir insbesondere unsere Schulbücher herstellen. Daß man 
bisher — aus Rücksichten für Industrie und Handel — in 
den Schulbüchern nicht größere, kräftigere und besser spa' 
tionierte Druckbuchstaben durchgesetzt hat, ist jedenfalls 
tief bedauerlich. Hervorragende ärztliche Autoritäten (na' 
mentlich Professor Cohn in Breslau) führen seit Jahrzehnten 
bittere Klage darüber, daß unsere ohnehin schwächliche und 
unleserliche Frakturschrift auf schlechtem Papier, grau, viel 
zu gedrängt, ohne Saft und Kraft, kurz in einer der Augen' 
hygiene Hohn sprechenden Weise gedruckt und den über' 
bürdeten Studierenden in erschreckenden Mengen um teueres 
Geld aufgehalst wird. 
Auch ich rufe: Auf den Index mit allen Büchern, welche 
im Quadratzentimeter'Ausschnitt mehr als zwei Zeilen zeigen! 
* * 
* 
Diese kleine Leseprobe wird genügen, um unseren Lesern die Vorzüge 
des kleinen Larisch-Werkes „Über die Leserlichkeit von ornamentalen 
Schriften“, das im Verlag von Anton Schroll & Co., Wien, erschienen 
ist, darzutun. Wir haben auf das Buch bereits im Heft 8 (vergl. „Bücher, 
die man lesen soll“, Seite 159) hingewiesen und uns mit Genehmigung 
des Autors die obige Leseprobe Vorbehalten, die am besten geeignet 
ist, dem Werkchen als Empfehlung zu dienen, mit dessen Herausgabe 
in guter Ausstattung der genannte Verlag ein Verdienst erworben hat, 
was von uns gern und rühmend anerkannt wird, wie alles, was 
irgendwie gut und nützlich ist. DIE RED. 
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