ÜBER DIE LESERLICHKEIT.
VON RUDOLF VON LARISCH.
(Fortsetzung aus Heft 9, Seite 172, und Schluß.) Jeder
von diesem Tausend wird sofort, ohne es je im Leben ver^
sucht zu haben, ein L, ein K, ein 0, ein T aus dem Ge^
dächtnisse leidlich graphisch darstellen können.
Das Wort' und Silbenlesen bei der Antiqua aber bietet
gleichfalls eher Vor' als Nachteile.
Der Unterschied zwischen Antiqua und Fraktur nach dieser
feststehenden Beurteilungsweise ist also ein sehr bedeutender,
er ist meßbar und unverrückbar, er zeigt uns den gesuchten
festen Maßstab zur Beurteilung der Leserlichkeit einer Schrift.
Dieser Maßstab wird uns übrigens besonders gute Dienste
leisten da, wo fremdartige Alphabete vorliegen. Eine Schrift'
art mag uns noch so seltsam anmuten, die Beziehung und
Unterscheidung der Buchstaben UNTEREINANDER zu be'
urteilen, wird stets in unserer Macht bleiben. Diese Er'
kenntnis aber wird sich bei der Gewinnung eines Urteils
über die ABSOLUTE Leserlichkeit einer solchen Schrift
auch immer bewähren.
Hier möchte ich noch eines Punktes meiner Unterrichtsweise
erwähnen, der uns das Verständnis dieses Maßstabes und
seiner Verläßlichkeit näher bringt. Um die individuelle Note
der ornamentalen Handschrift meines Schülers und seine
Schreibbegabung unverkümmert entfalten zu lassen, wird
er — besonders im Anfänge — von der Benützung irgend'
welcher Schriftvorlagen aufs ängstlichste behütet. Bei dem
nun aus dem Gedächtnisse in einem Zuge und in der ein'
fachsten Gestalt hinzusetzenden Buchstabenschreiben bevor'
zuge ich das ZURÜCKGEHEN AUF DIE PRIMITIVSTE
DARSTELLUNGSART: d. i. die des Ritzens.* Es entspricht
dies dem Ursprung alles Schreibens, wie schon die ver'
schiedenen Worte: to write, scribere, schreiben, graben,
grapho u. s. w. andeuten. Die Einfachheit des Schreibwerk'
zeuges nun wirkt auf die Einfachheit des Schriftduktus
zurück und diese wieder begünstigt die Betonung der Unter'
schiede unter den einzelnen Buchstaben. Der ritzende Griffel
macht jeden Strich gleich dick, es erscheinen daher alle
Striche gleich wichtig. Die Feder dagegen geht bereits davon
ab, sie macht Schatten' und Haarstriche, also wichtige und
weniger wichtige Buchstabenglieder. Damit aber legt sie den
Keim zur Unleserlichkeit im ABSOLUTEN Sinne.
Und es ist gewiß nicht ohne Bedeutung, daß in den letzten
Dezennien die Typen — selbst bei fetten Buchstaben — die
dünnsten Haarstriche aufweisen. Ist es doch die Zeit des
Tiefstandes im Schriftwesen, die Zeit der Schreckensherr'
schaff der „Prachtwerke“, die Zeit der plastisch und per'
spektivisch dargestellten Buchstaben, die Zeit also, da sogar
das Gefühl abhanden gekommen war, daß die Schrift Flächen'
kunst ist. * *
*
Und nun wieder zurück von diesen Zukunftsträumen
sonniger Einfachheit zu den trüben Niederungen der ver'
schnörkelten Frakturschrift unserer Tage!
Wie kommt es denn, so höre ich längst schon fragen, daß
wir unsere Romane und Zeitungen doch so rasch und gut
lesen können?
Als Antwort folgender Vergleich: Hast du je zu jonglieren
versucht? Zwei Ballen oder Äpfel werfen, treffen viele, drei
* Mit dem Griffel in weichem Material und auf dünnen, weich unter-
legten Blechen oder bei graphischer Darstellung mit dem sogenannten
Quellstifte.
schon wenige, vier erscheint bereits verblüffend schwer,
wenn man's sieht, und zehnmal schwerer, wenn man’s ver'
sucht. Und wie weit ist’s von da noch zum Virtuosen oder
gar zu den im Schwarme Messer schleudernden Japanern.
Der Schlüssel zu dieser unabsehbaren Abstufung ist die
Übung von Kindheit auf.
Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen unserer Frakturtype.
Diese durch den Einfluß des Industriellen und des Handels'
mannes bis zur Jämmerlichkeit verblaßte und verkommene
Gotik „jongheren“ wir alle seit frühester Jugend in so
reichem Maße, daß wir diese unleserliche und verschnörkelte
Schrift schließlich fließend lesen können. Wenn man aber
bedenkt, welche Anstrengung unserem Auge allein schon
damit zugemutet wird, aus dem kleinen, dünnen, kaum sicht'
baren Querstrichlein den Unterschied zwischen Ultimtm u. s. w.
zu erfassen oder die ähnlich verschlungenen SB, SS zu unter'
scheiden, so erkennt man den Hauptgrund, warum eine so
große Anzahl der Deutschen schon in jungen Lebensjahren
kurzsichtig wird.
Es ist dies ein Übel, das sich naturgemäß in erschreckender
Weise steigern und zur geringeren Wehr' und Seetüchtigkeit
des deutschen Volksstammes führen muß.
In deutschen Landen, wo in den Elementarklassen die
Antiquabuchstaben erst gelehrt werden, wenn die Fraktur
mit vieler Mühe bereits überwunden ist, kann es nicht leicht
zu einem Vergleich bezüglich der Schwierigkeit im Erlernen
dieser beiden Schriftarten kommen. In Ländern aber, die
bereits zur Antiqua übergegangen sind, wie Schweden u. s. w.,
und wo in den Schulen das Alphabet beider Typen gleich'
zeitig durchgenommen wird, sprechen die Kinder selbst von
der „schweren“ und von der „leichten Schrift“, wobei sie
die Fraktur als schwer und die Antiqua als leicht bezeichnen.
Einigermaßen gemildert werden alle diese ernsten Vorwürfe
durch die bereits angestellten Erwägungen über das Er'
fassen, beziehungsweise Erraten ganzer Wortbilder. Wer aus
dem Stadium des BUCHSTABENlesens zum „Lesen“ der
SILBEN UND WORTSILHOUETTEN übergegangen ist,
genießt auch bei der Frakturschrift den Vorteil des Unter'
scheidens der einzelnen WORTgestalten.
Zu hoher Not dagegen wird das Übel gesteigert durch die
Art und Weise, wie wir mit dieser Fraktur drucken, wie
wir insbesondere unsere Schulbücher herstellen. Daß man
bisher — aus Rücksichten für Industrie und Handel — in
den Schulbüchern nicht größere, kräftigere und besser spa'
tionierte Druckbuchstaben durchgesetzt hat, ist jedenfalls
tief bedauerlich. Hervorragende ärztliche Autoritäten (na'
mentlich Professor Cohn in Breslau) führen seit Jahrzehnten
bittere Klage darüber, daß unsere ohnehin schwächliche und
unleserliche Frakturschrift auf schlechtem Papier, grau, viel
zu gedrängt, ohne Saft und Kraft, kurz in einer der Augen'
hygiene Hohn sprechenden Weise gedruckt und den über'
bürdeten Studierenden in erschreckenden Mengen um teueres
Geld aufgehalst wird.
Auch ich rufe: Auf den Index mit allen Büchern, welche
im Quadratzentimeter'Ausschnitt mehr als zwei Zeilen zeigen!
* *
*
Diese kleine Leseprobe wird genügen, um unseren Lesern die Vorzüge
des kleinen Larisch-Werkes „Über die Leserlichkeit von ornamentalen
Schriften“, das im Verlag von Anton Schroll & Co., Wien, erschienen
ist, darzutun. Wir haben auf das Buch bereits im Heft 8 (vergl. „Bücher,
die man lesen soll“, Seite 159) hingewiesen und uns mit Genehmigung
des Autors die obige Leseprobe Vorbehalten, die am besten geeignet
ist, dem Werkchen als Empfehlung zu dienen, mit dessen Herausgabe
in guter Ausstattung der genannte Verlag ein Verdienst erworben hat,
was von uns gern und rühmend anerkannt wird, wie alles, was
irgendwie gut und nützlich ist. DIE RED.
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